Evernight Bd. 4 Gefährtin der Morgenröte
ihr euch ja noch später überlegen. Sagt den anderen, dass sie mit uns rechnen können, in Ordnung?«
»Und sag Balthazar …« Es fiel Raquel sichtlich schwer, die nächsten Worte auszusprechen. »Sag ihm, dass ich mehr für ihn hätte tun sollen, als wie uns das letzte Mal sahen. Ich hätte ihm helfen sollen, so wie ihr es getan habt.«
»Das weiß er«, beruhigte ich sie. »Aber du könntest es ihm noch mal selber sagen, in Ordnung? Balthazar würde sich bestimmt freuen, es aus deinem Mund zu hören.«
Raquel nickte. »Wir sollten jetzt aufbrechen. Wenn irgendjemand, der letztes Jahr in Evernight war, mich hier sieht, könnte das einige Fragen aufwerfen.«
»Danke«, sagte ich.
»Du musst mir nicht danken«, erwiderte sie mit fester Stimme. Wir lächelten einander an, und es fühlte sich so gut an zu wissen, dass wir wieder Freundinnen waren.
Nachdem sie gegangen waren, blieben Lucas und ich allein im Kino zurück und verfolgten die Handlung auf der Leinwand. Der normale Grund wäre gewesen, dass ich unter keinen Umständen vor dem Ende das Kino verlassen würde, wenn ein Cary-Grant-Film gezeigt wurde. Dieses Mal jedoch hatte ich das Gefühl, dass unbeantwortete Fragen über uns hingen und uns in unsere Sitze drückten.
Endlich sagte ich: »Wohin wollen wir gehen, wenn wir Evernight verlassen haben?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Lucas. »Ich hab noch nicht viel Zeit draußen im Westen verbracht. Vielleicht sollten wir das mal ausprobieren.«
»Oder wir gehen nach Europa«, schlug ich vor. »Balthazar sagt, es ist leichter, eine große Wasserfläche zu überqueren als einen Fluss.«
Lucas schnitt eine Grimasse; die Fahrt über den Fluss auf dem heutigen Weg nach Riverton hatte ihm ordentlich zugesetzt. »Wenn er das sagt …«
Auf der Leinwand versprachen sich Cary und Deborah, sich auf der Spitze des Empire State Buildings zu treffen. Ich nahm Lucas’ Hand in meine. »Ich weiß, dass das beängstigend ist … wieder an einen neuen Ort zu ziehen …«
»Davor habe ich keine Angst. Ich habe noch nie länger als ein paar Monate an einem Ort gewohnt – mein ganzes Leben lang nicht. Aber was wollen wir tun? Wir sind in Philadelphia finanziell nicht über die Runden gekommen, und das, obwohl du damals ebenfalls gearbeitet hast.«
Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht, aber die Tatsache, dass ich nun ein Geist war, dürfte meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht eben erhöhen. »Mom und Dad werden uns dieses Mal unter die Arme greifen. Sie haben genug auf die Seite gelegt, und außerdem wissen sie, wie man sich in die Welt einfügt. Sie werden es dir beibringen. Deswegen müssen wir uns keine Sorgen machen.«
Lucas gefiel der Gedanke überhaupt nicht, sich noch mehr Geld zu borgen, das konnte ich sehen, aber auch ihm war klar, dass die finanzielle Seite nicht unser größtes Problem war.
»Als ich hier zwischen Dana und Raquel saß, konnte ich ihre Herzen schlagen hören.«
»Du wirst diesen Hunger überwinden. Ich weiß, dass du das schaffst. Sieh dir doch mal Balthazar an oder meine Eltern oder Ranulf.«
»Für mich ist es schwerer, und das wissen wir beide. Außerdem ist es während der letzten paar Monate in Evernight kein bisschen besser geworden, was nicht dafür spricht, dass das jemals der Fall sein wird.«
»Du bist doch nicht verrückt. Du wirst nie ein irrer Mörder wie Charity werden.«
»Wenn ich nur ein einziges Mal töte, wenn ich auch nur ein Mal die Kontrolle verliere … Gott, Bianca, ich weiß tief in meinem Herzen, dass ich die Kontrolle verlieren werde … Dann wäre ich lieber tot.«
»Nein«, beharrte ich und nahm sein Gesicht in beide Hände. »Lucas, ich werde immer bei dir sein. Ich werde dich nie verlassen. Und du musst mir versprechen, dass auch du mich nicht allein zurücklässt. Du musst stark sein.«
Lucas’ Blick suchte meinen, und ich wusste, dass er einen feierlicheren Schwur als je zuvor leistete. »Ich werde dich nicht allein zurücklassen. Niemals. Was auch immer geschieht, wir werden es gemeinsam durchstehen.«
Dieses Versprechen hätte mich glücklich machen müssen, denn ich wusste, wie ernst Lucas es meinte. Aber stattdessen begriff ich, was ich da von ihm verlangt hatte. Er hasste es, ein Vampir zu sein, und er litt unter solch entsetzlichem Blutdurst, dass es ihn ständig daran erinnerte, jeden Tag, jede Minute. Für ihn war es eine Qual weiterzumachen; unsere gegenseitige Liebe konnte ihm immer nur zeitweilig Trost spenden. Er hatte
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