Evianna Ebel und die Tafeln des Schicksals
los.
Der Gang war gerade so breit, dass sie mit ausgestreckten Händen die Seitenwände erreichen konnte, was gut war, denn dadurch war sie in der Lage sich in der beinahe völligen Dunkelheit relativ zügig vorwärts zu bewegen. Nur selten hielt sie an, um Arme und Gesicht von hartnäckigen Spinnweben zu befreien. Sie lief und lief, bis sie an eine weitere Tür gelangte, die wesentlich größer war, als die zum Wachraum. Die klobigen schwarzen Eisenplatten mit denen sie beschlagen war, ließen darauf hoffen, dass sich dahinter etwas Interessanteres als eine Wachstube verbarg. Eviannas Puls beschleunigte sich. Sie drückte die schwere Klinke herunter doch nichts passierte. Die Tür war verriegelt. Unter dem Spalt am Boden fiel etwas Licht auf Eviannas Füße. Sie bückte sich und spähte durch das altmodische Schlüsselloch. In den Raum hinter der Tür fiel sehr viel mehr Mondlicht als in den Gang. Der Raum schien relativ groß zu sein. An der gegenüberliegenden Wand befanden sich eine alte Esse und darunter ein Herd. Die Wände waren rußgeschwärzt. Offenbar war das in einem früheren Jahrhundert die Küche gewesen. Evianna fiel auf, dass der Schlüssel von innen in der Tür steckte. Sie holte ihr Messer hervor und schob die schmale Klinge ins Schloss. Es dauerte nicht lange und sie hatte den primitiven Schlüssel herausgeschoben. Klingelnd fiel er auf der anderen Seite der Tür zu Boden. In Ermangelung eines Stabs oder Stocks zog sie den steifen Ledergürtel aus ihrer Hose. Dann legte sie sich flach auf den Bauch und schob den Gürtel durch den Spalt unter der Tür hindurch.
Es dauerte eine ganze Weile, doch nach mehreren erfolglosen Versuchen schaffte sie es schließlich, den Schlüssel unter der Tür hindurch zu ziehen. Nachdem sie den Gürtel zurück durch die Schlaufen ihrer Hose geschoben hatte, steckte sie den Schlüssel ins Schloss und drehte daran. Der Schließmechanismus zog sich ächzend und knirschend zurück und die Tür ging auf.
Vorsichtig schob Evianna den Kopf durch die Tür und lauschte. Drinnen war alles still, so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Trotzdem zog Evianna ihre Waffe hervor. Wer wusste schon, wer oder was hinter der nächsten Ecke lauerte?
So leise wie möglich schlich Evianna durch die Küche. Sie spähte in den nächsten Raum. Er war leer. In ihm befand sich kein Mobiliar doch gingen von ihm weitere Türen ab. Evianna durchquerte ihn und gelangte von dort aus in einen weiteren Gang, dem sie folgte, bis sie sich in einer Art Schlafkammer wieder fand. Evianna fluchte leise. Wenn sie gewusst hätte, wie weitläufig diese Festungsanlage war, hätte sie sich vorher einen Lageplan organisiert– falls so etwas von diesem monströsen Bauwerk überhaupt existierte. Ehrlich gesagt bezweifelte sie das. Vielleicht hatte es einmal so etwas gegeben, früher, als sich die Menschen noch für Kultur interessierten. Die Menschen von heute waren jedoch mit wichtigeren Dingen beschäftigt, wie zum Beispiel mit der Sicherung des eigenen Überlebens. Das nahm sie so sehr in Anspruch, dass keine Zeit blieb für die Besichtigung antiker Bollwerke. Niemand interessierte sich mehr für so etwas, deshalb standen die meisten dieser alten Gebäude leer. Eigentlich also ein gutes Versteck für die vielen
verschwundenen Menschen.
Plötzlich schrak Evianna auf. Sie hatte ein Geräusch gehört, den Klang von Schritten, schweren Schritten. Sie schienen aus dem Gang zu kommen, den sie gerade verlassen hatte. Und sie kamen auf sie zu. Evianna unterdrückte die aufsteigende Panik und versuchte logisch zu denken. Es war immer noch dunkel. Das einfallende Mondlicht war die einzige Lichtquelle. Sie erwog den Gedanken, sich in eine dunkle Ecke zu quetschen und zu warten, bis die Gefahr vorüber war. Doch nach Shaks Worten war das was da kam ein Gargoyle, der vermutlich im Dunkeln gut sah oder sie schlimmsten Falles sogar riechen konnte. Wer wusste das schon so genau? Evianna klammerte sich an ihre Waffe.
Die Schritte näherten sich unaufhaltsam und nun vernahm sie auch Stimmen, die tiefen Stimmen zweier Männer, die sich miteinander unterhielten. So schnell und so lautlos wie möglich huschte sie in einen benachbarten Raum. Zu ihrem Entsetzen stellte sie fest, dass er weder Fenster noch eine weitere Tür besaß. Wenn die beiden Kerle sie hier entdeckten, saß sie unweigerlich in der Falle.
Evianna zwang sich dazu ruhig zu atmen und kauerte sich in einer der Ecken zusammen. Die Schritte der
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