Evianna Ebel und die Tafeln des Schicksals
bestreiten. Die Hand wäre ein herber Verlust, zumal es nicht einfach ist, Nachschub zu besorgen. Abgetrennte menschliche Hände wachsen nämlich nicht auf Bäumen.“
„Nein, ich weiß.“ Evianna stand auf und griff nach dem Beutel. „Und ich verspreche vorsichtig zu sein.“ Unschlüssig starrte sie die Hand an. Dann hielt sie Paddy den Beutel hin. „Könntest du vielleicht so nett sein…?“
Paddy griff nach dem Beutel und bettete die Hand beinahe liebevoll hinein. „Danke.“ Evianna hauchte Paddy einen Kuss auf die Wange. Den Beutel auf Abstand haltend, lief sie zu ihrem Motorrad und verstaute ihn dort in ihrer kleinen Gepäcktasche. Dann fuhr sie los.
Zuerst fuhr sie ins Rheintal Krankenhaus. Dorthin hatte man Keir gebracht. Sein Zustand war unverändert. Noch immer lag er ohne Bewusstsein auf der Intensivstation. Daher durfte Evianna ihn auch nicht besuchen. Ein Blick durch die Scheibe war alles, was man ihr gestattete. Man hatte ihn in menschliche Gestalt zurückversetzt. Aus seinem Körper hingen mehrere Schläuche heraus. Maschinen blinkten und piepten. Evianna legte die Hand an die Scheibe. Wenn sie ihm doch nur irgendwie helfen könnte. Aber das konnte sie nicht. Die ganze Zeit schon machte sie sich Vorwürfe. Hätte es etwas genützt, wenn sie Keir von den Gargoyles erzählt hätte? Hätte er Shaytan dann vielleicht nicht angegriffen und man hätte nicht auf ihn geschossen? Andererseits hatte sie ihr Wort gegeben, niemandem von der Existenz der Gargoyles zu erzählen. Doch was bedeutete das schon? Ihr Partner kämpfte um sein Leben– und das durch ihre Schuld.
Evianna verließ das Krankenhaus in gedrückter Stimmung. Hier konnte sie vielleicht nichts für Keir tun, aber sie konnte zumindest herausfinden, wer auf ihn geschossen hatte und denjenigen zur Rechenschaft ziehen. Und genau das hatte sie vor. Mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr Evianna zur alten Burg auf dem Rheinfelsen. Schon aus einiger Entfernung konnte sie ein paar der großen steinernen Statuen sehen, die sich bei Anbruch der Nacht in lebendige Männer verwandeln würden. Sie lehnte ihr Motorrad an den Fuß des Wehrturms und nahm den schwarzen Beutel aus ihrer Gepäcktasche. Das rostige Fenstergitter, durch das sie bei ihrem ersten Besuch auf der Burg eingebrochen war, war repariert worden und einen Schlüssel zum Eingangsportal besaß Evianna diesmal auch nicht. Aber dafür hatte sie jetzt etwas Besseres: sie hatte eine Hand.
Evianna öffnete den Beutel. Es kostete sie mehrere Anläufe und ein hohes Maß an Überwindung, die Hand aus dem Beutel zu nehmen. Verwundert stellte sie fest, dass die Hand sich nicht so eklig anfühlte, wie sie befürchtet hatte. Es war etwa so, als hielte man trockenes Holz in der Hand. Evianna ging näher zur Tür. Sie tat, was Paddy gesagt hatte, und brachte die Hand so nah wie möglich an den Drücker des Eingangsportals. Und plötzlich schnappte die Hand zu. Die knorrigen Finger umklammerten den Griff.
Evianna starrte die Tür an. Und jetzt? Offen war irgendwie anders. Evianna drückte gegen die Tür, zunächst noch halbherzig, doch als sie merkte, dass das schwere Eichenportal nachgab, stemmte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen und gleich darauf war sie drinnen. Wow. Endlich mal einer von Paddys Zaubern, der richtig gut funktionierte. Evianna griff nach der Hand um sie zurück in den Beutel zu stecken doch die Hand saß fest. Sie zog und zerrte und versuchte die langen, dürren Finger einzeln zu lösen doch es war nichts zu machen. Die Hand blieb wo sie war. Mist. Da hatte Paddy wohl vergessen ihr etwas zu erklären. Evianna erwog den Gedanken, die Hand zu lassen wo sie war. Doch vielleicht brauchte sie sie noch? Und was würde Paddy dazu sagen wenn sie ohne Hand heim kam? Nein, das war eindeutig keine gute Idee. Evianna hielt den Beutel auf. „Hopp!“, befahl sie. Das funktionierte leider auch nicht. „Aus!“ und „Geh‘ ins Körbchen!“ ebensowenig. Genervt überlegte Evianna, was Paddy in dieser Situation tun würde. Sie atmete tief durch und streichelte sanft über die knorrigen Finger. Und tatsächlich. Die Finger lösten sich langsam. Evianna pflückte die Hand von der Tür und stopfte sie zurück in den Beutel. Dann schloss sie die Tür und machte sich auf den Weg ins Innere der Burg. Allerdings kam sie nicht weit, denn schon in der Halle stieß sie auf die beiden Ghule, die ihr den Weg zur Treppe hinauf versperrten.
„Hallo. Ich bin’s. Evianna“, sagte sie freundlich. Die
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