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Evil - Das Böse

Evil - Das Böse

Titel: Evil - Das Böse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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sie konnte ihn unmöglich entdeckt haben, sie spielte fehlerfrei, ohne eine einzige Wiederholung, das ganze Stück. Dann blieb sie ganz still sitzen und legte die Hände in den Schoß.
    »Setz dich, wir haben etwas Wichtiges zu besprechen, du und ich«, sagte sie plötzlich, ohne sich umzudrehen, und so leise, dass er sich für einen Moment einbildete, überhaupt nichts gehört zu haben. Dann fing sie mit einem neuen Stück an, noch immer Melancholie und Chopin, und er ging leise durch den Salon und setzte sich in einen Ledersessel. Er schloss die Augen und lauschte.
    Wie schön sie spielte! Als könne sie unmöglich seine Mutter sein, wenn der Vater sein Vater war, als lägen alle Gefühle, von denen er glaubte, dass seine Klassenkameraden sie zu Hause empfanden, in ihren Tönen, als hätte es auch hier bei ihnen so sein können, als hätte es auch bei ihnen so sein müssen, Gefühle, die tief unter die Haut gingen, statt der ewigen Nachtischprügel, der ewigen Peitschenhiebe, der ewigen Schläge, des ewigen Verrats durch Freunde, die gar keine Freunde waren, der ewigen Angst, jemand könne plötzlich hervorspringen und mit voller Kraft mit einem Hammer auf die Tasten schlagen.
    Die Musik war verstummt. Die Mutter setzte sich ihm gegenüber in den anderen Ledersessel, und er hätte gern etwas anderes gesagt als das, was er gleich sagen musste. Sie sah ihn aus ihren braunen Augen an, und ihm kam eine leise Ahnung, dass sie geweint hatte.
    »Ich weiß«, sagte sie leise. »Ich weiß schon alles.«
    Dann nahm sie zu seiner Überraschung eine Zigarette aus dem silbernen Etui und gab sich mit zitternder, ungeübter Hand Feuer. Sie schob die Zigarette zu weit zwischen ihre Lippen, als sie den ersten Zug machte, sodass Tabakflocken an ihrer Unterlippe kleben blieben. Dann schob sie ihm das Etui zu.
    »Ich nehme an, du rauchst«, sagte sie.
    Er nahm eine Zigarette und sie schwiegen eine Weile. Dann sammelte sie sich und erzählte, dass sie bereits zwei Tage zuvor seine Klassenlehrerin getroffen habe.
    »Sie ist ein wunderbarer Mensch, das kann ich dir sagen, ja, ich nehme an, du weißt es bereits. Sie glaubt an dich und . ich habe ihr von deinen Problemen mit Vater erzählt und .«
    Die Mutter zitterte und schien keine Luft mehr zu bekommen, und Erik dachte, wenn sie jetzt zu weinen anfängt, dann halte ich das nicht aus, sie darf jetzt bitte nicht weinen. Aber sie riss sich zusammen und zog zweimal wütend an ihrer Zigarette, dann sprach sie weiter.
    »Ich hätte so viel für dich tun müssen, Erik, und ich weiß nicht, ob du mir verzeihen kannst. Aber diese beiden Jahre, die dir bis zum Gymnasium noch fehlen, die werden wir auf jeden Fall schaffen. Ich wollte dir nichts sagen, bis alles geklärt ist, aber … das ist es jetzt. Du wirst in zwei Stunden mit dem Zug losfahren und in einer neuen Schule anfangen. Alles wird in Ordnung kommen, du wirst sehen. Alles wird in Ordnung kommen.«
    Er sah ihr in die Augen. Dann schwiegen sie beide.
    Zwei Stunden später saß er in einem Zug nach Süden und sah das Glitzern des Lichts im Riddarfjärd.
    In seinem Zimmer hatte die neue Kleidung auf ihn gewartet, blauer Blazer, weißes Hemd, blauer Schlips und schwarze Schuhe. Das war die Schuluniform, die der auf Matrizen abgezogenen Schulordnung zufolge übers Wochenende getragen werden musste, dazu zu bestimmten, ebenfalls angegebenen Gelegenheiten. In der Brusttasche des Blazers steckte das Stoffabzeichen der Schule, das Sternbild Orion, das auf der Brusttasche angenäht werden sollte. Seine Mutter hatte, bis auf seine Spikes und seine Fußballschuhe, schon alles in eine Reisetasche gepackt.
    Er hatte das Abzeichen mit dem Orion eine Zeit lang in der Hand gehalten, dann hatte er um Geld für den Friseur gebeten, und als er sich nun mit der Hand über den Nacken fuhr, kam er sich vor wie ein Igel. Statt einer Schmalztolle hatte er nun einen kurzen Schopf, der zur Seite gekämmt wurde. Niemand würde etwas über ihn wissen und er würde niemals einen Klassenkameraden schlagen. Da niemand etwas über ihn wusste, würde er sich nie mehr schlagen müssen, nie wieder würde es einen Grund dafür geben.
    Er sah seine Hände an. Wenn man die Hände aus der Nähe betrachtete, konnte man hier und dort kleine weiße Narben entdecken, vor allem von Zähnen hinterlassene. Aber die neuen Klassenkameraden würden nichts wissen.
    Jedes Mal, wenn die Zugräder über eine Weiche fuhren, war er wieder Stück weiter entfernt vom Vater der Hundepeitsche

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