Evil - Das Böse
Raubtiere, wie Wölfe, nur eben essbar! Die Samen töten Wölfe ja auch nicht aus purer Gemeinheit.
War Polyphem also nur gefährlich und dumm?
Bei Silverhielm sah das jedenfalls anders aus. Silverhielm war Mensch und musste im Prinzip andere Menschen als seinesgleichen betrachten, nicht als essbare Schädlinge. Silverhielm war nicht dumm, er war nur gemein. Ziemlich intelligent und gemein.
Das Böse musste im Gehirn sitzen und sonst nirgendwo. Ein Hai hat kein nennenswertes Gehirn und ist nicht gemein. Polyphem war die unbekannte Bedrohung, das Gefährliche in der Fantasie der Menschen. Silverhielm war bewusst und auf intelligente Weise bösartig. Aber warum war er das?
Vielleicht war er nicht gemein im eigentlichen Sinn des Wortes. Pierre erzählte von den Foltern der Inquisition - waren die folternden Priester gemein? Ja, irgendwie schon, sie hatten schließlich gefoltert. Aber wenn sie glaubten, dass sie etwas taten, was Gott gefiel? Wenn sie davon überzeugt waren, dass sie als Diener Gottes die Welt vom Übel der Ketzerei erlösen müssten, heiligte dann der Zweck nicht die Mittel?
Das Ganze war schrecklich verwickelt. Silverhielm und seine Mafia glaubten offenbar, sie müssten Stjärnsberg vor dem Niedergang retten - heiligte also ihr Zweck ihre Mittel und waren sie im Grunde auch nur reinherzige Priester?
Nein, das kann nicht sein. Wir holen tief Luft und fangen wieder von vorne an.
Also. Wenn man sah, wie Silverhielm kleine Jungen schlug, dann wurde doch deutlich, dass ihm das Spaß machte. Niemand verabreichte so viele Ein-Stich-Schläge wie er und keiner aus der Dritten hatte so viele Mittelschüler ins Karo geholt. Es machte ihm ganz einfach Spaß. Es gab Menschen, die es genossen, andere zu quälen. Wie ein gewisser Vater, zum Beispiel.
Und Silverhielm log, wenn man es sich genauer überlegte. Im Wahlkampf hatte er von einer Sozibewegung in der Mittelschule gesprochen, obwohl alle wussten, dass es keine solche »Bewegung« gab. Er log, um an die Macht zu kommen, und er log, wenn er die Gründe anführte, weshalb mehr Prügel notwendig sein sollten. Also konnte man ihn auch nicht mit den Priestern der Inquisition vergleichen.
Das Gerede über die Sozis hatte allerdings seine Wirkung gezeigt. Sogar Bernhard hatte im Wahlkampf Probleme bekommen, als sie den Eindruck erweckten, er sei, wie hatten sie es noch genannt, »sozianfällig«. Erst malte Silverhielm das verlogene Bild einer Gefahr, die bekämpft werden müsse. Dann bot er sich als den rettenden Engel an, als neuen St. Georg (die Schultradition mit allem Drum und Dran war die Jungfrau), und wir, die angeblichen Sozis, waren der Drache.
Zu alldem waren Intelligenz und Planung vonnöten, taktisches Geschick und große Weitsicht. Polyphem hatte rein gar nichts geplant, er hatte nur unerwarteten Besuch von Viehdieben bekommen.
Silverhielm war also gemein, er war das Böse.
Aber warum war er das? Wurde man so geboren? Oder kam es daher, dass er als Kind oft geprügelt worden war? Keine Erklärung war, dass er schon so und so lange in Stjärnsberg war und deshalb als milieugeschädigt gelten konnte. Bernhard war ebenso lange hier, und Bernhard sah die Sache mit der Gewalt anders, Bernhard war nicht auf dieselbe Weise gemein.
Sie konnten keine Erklärung finden, sie redeten nur immer wieder im Kreis. Nur eins stand fest: Leuten wie Silverhielm musste man immer Widerstand leisten, man musste zurückschlagen, wenn es irgendwie möglich war. Solche wie er durften nicht gewinnen, man musste Gewalt mit Gewalt beantworten, wenn man konnte, und mit Hohn und Spott, wenn sich keine Gewalt anwenden ließ, also in der Mehrzahl der Fälle.
Aber das war leicht gesagt. Im Moment war die Lage jedenfalls nicht schwierig. Diesmal würde Silverhielm das Spiel wohl gewinnen und am nächsten Tag überall herumerzählen, wie Erik ausgesehen hatte, als er ins Krankenhaus nach Flen gefahren worden war. Es war schlimm, dass es so weit kommen musste. Und trotzdem musste man Widerstand leisten, auch wenn die Sache beinahe hoffnungslos aussah. Das war das Einzige, was sich mit Sicherheit sagen ließ. Typen wie Silverhielm durften nie gewinnen, weder hier und jetzt noch irgendwann in der Zukunft im Erwachsenenleben. So war das.
Die Frage war nur, welche Mittel man anwenden sollte. Und da schloss sich der Kreis, sie waren wieder bei Gandhi und Algerien. Sie kamen zu keiner Lösung. Sie verstummten.
Noch immer prasselte der Regen gegen die Fensterscheiben. Der Wind hatte
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