Ewig Dein
noch nicht in der Lage, einen Abend mit ihm zu verbringen. Sie hatte sich eine Reihe aufwendig konstruierter Ausreden zurechtgelegt, um ein Treffen zu verhindern. Vielleicht wäre aber auch die Wahrheit aus ihr herausgeplatzt, das hätte dann so geklungen: »Tut mir leid, Hannes, ich bin derzeit einfach nicht in Stimmung, dich zu sehen. Deine Sehnsucht nervt mich. Dein Drängen ist mir zu viel geworden. Konkret – dein Überfall. Es ist dieses Bild vom kauernden Mann vor meiner Haustür um Mitternacht, der auf mich gewartet, der mich verfolgt, der mich heimgesucht hat. Diesen Mann bringe ich so schnell nicht aus meinem Kopf. Und er verträgt sich absolut nicht mit mir im gleichen Bett.«
Klärende Worte blieben unausgesprochen, denn erstaunlicherweise machte er keine Anstalten, nicht einmal Andeutungen, sie am Abend sehen zu wollen. Dreimal winkte er beim Auslagenfenster herein. Die Telefonate mit ihm waren kurz und herzlich. Er gab sich alle Mühe, witzig zu sein, und ein paar Mal gelang es ihm sogar – verhältnismäßig ungezwungen.
Jedenfalls, und das war die angenehme, neu entdeckte Seite an ihm, jedenfalls schien er seine erdrückende Schwermut abgelegt zu haben. Er übte sich im lockeren Plauderton, mied das pathetische Thema »Liebe des Lebens«, kramte in seiner Kiste der kleinen Aufmerksamkeiten und begnügte sich mit zarten Zitaten aus seinem Geheimlexikon der tausend schönsten Komplimente.
Nach einer Woche wohldosierter Nähe und ungebrochener Distanz hatte sie wieder genug Vertrauen gefasst, um ihn auf die Sache mit Ali anzusprechen. »Warum hast du das gemacht?«, fragte sie. Hannes: »Warum glaubst du wohl?« Judith: »Was ich glaube? Ich will nicht, dass es das ist, was ich glaube.« Hannes: »Jetzt interessiert mich noch mehr, was du glaubst, dass es ist.«
Judith: »Ich glaube, du hast es wegen mir gemacht.« Er lachte laut auf. Wenn das gespielt war, dann war es gut gespielt. Hannes: »Liebling, diesmal irrst du. Ich brauche die Fotos, ich muss eine Kartei anlegen. Ali braucht Geld, er muss eine Familie erhalten. Und Ali kann fotografieren. Ich wünschte mir, alle Geschäfte kämen so einfach zustande.« Judith: »Warum hast du vorher nicht mit mir darüber gesprochen?« Hannes: »Ich gebe schon zu, ich wollte dich damit überraschen, Liebling. Ich wusste ja, dass du dich für deinen Bruder freuen würdest.« Judith: »Hannes, du überraschst mich zu oft und zu heftig.« Hannes: »Liebling, das wirst du mir nicht abgewöhnen können. Ich liebe es, dich zu überraschen. Das ist mein schönstes Hobby, das ist mittlerweile fast schon mein Lebenssinn.« Dazu lachte er. Wenn er versuchte, selbstironisch zu sein, mochte sie ihn am meisten.
6.
Sein aktuelles Überraschungsangebot war das beharrliche Ausbleiben der Frage, ob sie wieder einmal einen Abend miteinander verbringen wollten. Nun waren schon zwei Wochen seit der Begegnung im Stiegenhaus vergangen. Hatte er plötzlich das Interesse an ihr verloren? Wollte er ihr nicht mehr nahe sein? Gab es da eine andere Frau? (Ein gleichermaßen befreiender wie bestürzender Gedanke.) Oder war nach viermonatiger Bekanntschaft oder Beziehung, oder wie immer man es nennen wollte, nun einfach erstmals Judith an der Reihe, den nächsten Schritt zu setzen?
Es war halb elf Uhr nachts, sie lag auf ihrer ockergelben Couch, ließ sich von ihrer warmen Goldregenlampe beleuchten. Ein ereignisloser Sommerwerktag schien sich mit der dazupassenden Stimme eines Nachrichtenmoderators in gähnender Leere zu erschöpfen, da schrieb sie Hannes ein SMS: »Wenn du noch wach bist, dann bleib wach. Wenn du noch zu mir kommen willst, dann komm!!!!!« Drei der fünf Ausrufezeichen löschte sie, bevor sie die Meldung verschickte.
Zwei Minuten später langte seine Nachricht ein. »Liebling«, schrieb er, »heute nicht mehr. Aber morgen Abend können wir gerne essen gehen. Wenn DU willst!!!« Ihre Enttäuschung währte nur ein paar Minuten und stand in keiner Relation zu dem Glücksgefühl, das sie nun mit in den Schlaf nehmen durfte. Jenen Hannes, der nicht mehr auf Abruf bereitstand wie sein Vorgänger, diesen neuen Hannes wollte sie näher kennenlernen. Sie freute sich auf das erste Rendezvous mit ihm.
7.
Er musste einen Gelassenheitskurs absolviert haben. Die Begrüßung war beiläufig und bestand aus einer Drei-Sekunden-Handmassage und einem flüchtigen Kuss auf die Wange. Außerdem war er neun Minuten zu spät gekommen. Es waren die bisher ersten neun Minuten, in
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