Ewig Dein
Stunden wach halten. Er bestand aus einem Kuvert mit Flugtickets: Venedig, drei Tage, zwei Personen, drei Nächte, ihr Name, sein Name. Geplanter Abflug: Freitag. Übermorgen. Dazu ein viel zu dickes Bleistiftherz und seine unverkennbare Handschrift: »Überraschung!«
9.
Venedig war unschuldig. Es tat, was es konnte, um seinem Begriff von Romantik gerecht zu werden. Aber gegen Hannes Bergtaler stand es mitsamt seinen bunten Gondeln und grünen Kanälen von Beginn an auf verlorenem Posten. Judith erkannte schon an seinem fiebrigen Forscherblick beim Antritt der Reise, an seinem Fremdenführerkuss zur Begrüßung und an seinem Expeditionsköfferchen, dass es ein Fehler war, das Geschenk angenommen zu haben. Sie tröstete sich damit, dass es bestimmt der letzte Fehler dieser Art gewesen sein würde.
Sie residierten in einer kleinen Vier-Sterne-Suite mit Balkon an einer der 426 historischen Brücken. Hannes kannte jede; Judith musste sich also keine merken. Man mochte meinen, er war in Venedig aufgewachsen. Doch er versicherte, vorher noch nie da gewesen zu sein.
Jedenfalls kannte er Venedig beinahe besser als es sich selbst. Es Judith näherzubringen, war, wie sich bald herausstellte, der tiefere Sinn der Reise, der tiefere und auch der seichtere – der gesamte, der einzige. Judith unternahm erst gar keinen Versuch, dagegen anzukämpfen. In seinem Drang, ihr die Welt (diesmal in Form von Venedig) zu Füßen zu legen, war Hannes unbelehrbar und unerbittlich.
Sex verschoben sie wegen (ihrer) Erschöpfung, und weil Sex einem (sein) Venedig ohnehin nicht anschaulicher machen konnte, von einer Nacht auf die nächste. Tagsüber standen nach einem geografisch ausgeklügelten System Museumsbesuche, Besichtigungen der Sehenswürdig- und -unwürdigkeiten, zeitlich limitierte Kaffeepausen, die Hannes für kleine Architektur-Privatseminare nutzte, und Ausflüge an die Peripherie, »das geheime, versteckte, aber wahre und echte Venedig«, auf dem Programm. Für die drei Abende hatte er Tische in bekannten Restaurants reserviert und jeweils die besten Violinkonzert- und Theaterkarten organisiert. Vermutlich waren selbst die Garderobeplätze vorbestellt gewesen. Nun konnte sich Judith ausmalen, womit er die vergangenen zwei Wochen beschäftigt gewesen war.
Wieder bemerkte sie, dass jedes ihrer Gefühle zu Hannes an Verpflichtungen gekettet war. Diesmal war sie ihm Dank und Anerkennung schuldig. Was war er doch für ein Elite-Reiseführer, was für Trümpfe schüttelte er aus dem Ärmel, um ihr unablässig seine Liebe zu beweisen! Wenn man allerdings drei Tage lang in Stundenintervallen beeindruckt sein musste, schaffte man es irgendwann nicht mehr. Nach zwei Tagen hatte Judith genug vom chronisch überreizten Bergtaler-Venedig und täuschte Migräne-Anfälle vor.
In der dritten und letzten Nacht wurde sie von schlechten Träumen wachgerüttelt und fand sich am Rücken liegend, eingeklemmt zwischen seinen Armen und Beinen. Versuche, sich herauszuschälen, ohne ihn dabei aufzuwecken, scheiterten. Sie hasste sich dafür, sich und ihn in diese Lage gebracht zu haben. Der Zustand versetzte sie zudem in Panik, die sich mit einem Gefühl tiefer, von der Stille und Finsternis genährter Traurigkeit mischte. Mit ihrer freien rechten Hand ertastete sie den Schalter und drehte damit den filigranen Deckenluster auf. Erst glitzerten die Glaskristalle klar in ihren Farben, die Judiths Kindheit zeichneten. Dann begannen sie ineinander zu verschwimmen und lösten sich langsam in Tränen auf.
Schließlich wurden sie von Sturzbächen aus ihren Augen geschwemmt.
Die Schluchzgeräusche unterdrückte sie, so gut es ging. Es galt nur noch, unbemerkt ein paar Stunden dieser grauenhaften Bewegungsunfreiheit zu überstehen. Aber sofort nach Venedig musste es heraus. Sie musste es ihm sagen. Mehr noch: Sie musste es ihm so sagen, dass er es verstand. Sie musste sich im guten Einvernehmen von ihm trennen. Schon der Gedanke daran jagte ihr Angst ein.
Phase fünf
1.
»Es hat nichts mit dir zu tun«, sagte sie. Zum Einstand gleich einmal die unverschämteste aller Lügen. Sie ließ drei Zuckerwürfel in die Kaffeetasse fallen. Hannes ertränkte seinen Blick, von dem sie gar nicht wissen wollte, welcher Art er war, in einem Glas Wasser. So schön konnte keine Beziehung gewesen sein, dass sie das Elend einer Trennung rechtfertigte.
Judith: »Ich bin momentan einfach nicht fähig für eine enge Bindung.« Verdammt, warum fuhr er nicht erbost
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