Ewig Dein
Geschäft vertraute sie sich ihrem Lehrmädchen an. Bianca nahm die Geschichte eher gelassen auf. »Stimmen höre ich auch immer wieder, meistens die von meiner Mutter, die ist noch dazu volle schrill.« – »Bianca, ganz ehrlich, stimmt etwas nicht mit mir?«, fragte Judith. »Wirklich ganz ehrlich?«, fragte Bianca. Judith: »Ja, bitte.« Bianca: »Okay, Chefin – Sie schauen scheiße aus.« Judith: »Danke, sehr aufbauend! Wie meinst du scheiße?« Bianca: »Wie soll ich sagen, Sie sind wie ein Schatten von sich selbst. Sie werden immer dünner und blasser. Sie zittern. Sie ziehen sich nicht mehr cool an. Und schauen Sie einmal Ihre Frisur an, die ist bitte ur nicht in! Außerdem kauen Sie Fingernägel, sind nervös und gereizt, wenn Kunden im Geschäft sind. Lauter solche Sachen. Vielleicht brauchen Sie einfach Urlaub. Oder einen ordentlichen Liebhaber, der Sie so richtig hernimmt und auf andere Gedanken bringt. Ich erlebe das gerade. Da vergisst man alle Sorgen.« Sie brachte eine volle Kreisdrehung ihrer schönen dunklen Pupillen an. »Oder wenigstens ein neues Paar Stiefel. Wenn’s einem nicht gutgeht, muss man sich immer was Geiles kaufen.«
»Weißt du, was mich wahnsinnig macht?«, fragte Judith. »Hannes, oder?«, erwiderte Bianca. Judith: »Dass er sich nicht meldet.« Bianca: »Wahrscheinlich hat er eine andere. So was ärgert einen, auch wenn man gar nichts mehr von dem will.« Judith: »Bianca, der hat keine andere, das spüre ich.« Bianca: »Dann seien Sie froh, dass er Sie in Ruhe lässt!« – »Er lässt mich aber nicht in Ruhe. Er okkupiert und blockiert mich. Er ist nicht nur bei mir, er ist bereits in mir.« – »Hm«, erwiderte Bianca und tippte mit ihrem Zeigefinger an die Schläfe. Man erlebte das nicht oft, dass Bianca angestrengt nachdachte. »Wissen Sie was, Frau Chefin?«, sagte sie schließlich: »Gehen wir gemeinsam Stiefel kaufen!«
Phase neun
1.
Der Oktober begann windstill, erzeugte mehliges gelbes Licht, warf beklemmend lange Schatten, verdunkelte die Tage früh und dehnte die Nächte aus. Lukas rief regelmäßig an, um auszuloten, wie es ihr ging. Wäre sie ehrlich gewesen, so hätte er sich wohl sofort angeschickt, nach Wien zu kommen, um ihr beizustehen, wobei auch immer. Am liebsten wären ihr mehrstündige Umarmungen und jedes Mal ein Aufwachen mit seinen Fingern in ihren Haaren gewesen, damit ihr Kopf nach den Albtraum-Serien weiter dichthielt. Aber Lukas hatte ja »Familie«, wie Mama ihr jüngst so feinfühlig unter die Hirnrinde gemeißelt hatte. Und Hannes, dem Gespenst, hatte er ohnehin nichts entgegenzusetzen. Also versicherte sie ihm meistens und recht überzeugend, dass es ihr gutgehe, dass sie spüre, wie ihre Lebensgeister langsam wieder erwachten, dass sie sich im Internet auf Partnersuche begeben habe und dass ihr das Flirten im und auch ohne Netz mächtig Spaß mache.
»Schön, Judy, das beruhigt mich!«, erwiderte Lukas. Es kränkte sie ein wenig, dass er offenbar nicht viel mehr als nur beruhigt sein wollte – und wie leicht er sich beruhigen ließ. Aber sie wusste wenigstens, dass sie auf ihn zählen konnte, wenn es ihr einmal nicht mehr gelingen würde, ihn zu beruhigen. Das beruhigte sie.
Natürlich suchte sie keinen Partner, schon gar nicht bei einer dieser Börsen im Internet, wo die Reizarmen aus den hinteren Reihen des Alltags als geistreiche Charmeure vorstellig wurden. Aber am ersten Freitagabend des Monats, an dem vorübergehend alle Schatten verschwunden waren, lernte sie unabsichtlich tatsächlich jemanden kennen. Nach Geschäftsschluss war sie mit Nina, der bei Männern glücklosen Tochter von Musikhaus König in der Tannengasse, noch auf einen Sprung ins Café Wunderlich gegangen. Der »Sprung« erwies sich als weiter Satz. Stundenlang bestellte eine von beiden noch ein letztes Glas Wein, Wasser oder Aperol. Für das abschließende allerletzte Getränk wechselte man in die Eugen-Bar, eigentlich ein vom Kerzenlicht durchfluteter Gymnasiastentreff für erste Zungenküsse. Aber an Ninas abgelenkten, ständig seitlich an ihr vorbeiströmenden, mitunter verzehrenden Blicken erkannte sie, dass hinter ihr so jemand wie ein echter Mann sitzen musste. Irgendwann drehte sie sich um. Und es war einer dieser Momente, wo zwei Augenpaare einen Pakt für die gemeinsame Zukunft beschlossen, egal ob die Zukunft nach einer Nacht bereits wieder Vergangenheit war.
Er hieß Chris, sah römisch aus, wie eine zum Leben erweckte Bronzefigur von Donatello, war
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