Ewig Dein
Dachgeschoss erreicht hatte, nahm irgendein Sinnesorgan wahr, dass etwas anders war als sonst. Sie holte präventiv Luft, um den Schrei früh genug loszulassen, um seiner Ursache zu trotzen. Aber als sie den Zettel an ihrer Tür sah, verstummte sie: schwarz umrandet und ein Kreuz in der Mitte – das war eine Todesnachricht. In Panik wandte sie sich ab, den Namen musste sie nicht lesen, der hatte sich längst in ihr Gehirn gebrannt. Sie hastete und stolperte hinunter, die Stufen prasselten ihr entgegen. »Lukas!«, schrie sie. – »Was ist geschehen?« Endlich war das Haustor offen. – »Ich glaube, Hannes ist tot!« Sie sackte in seine Arme.
Er musste ihr eine halbe Stunde geben, sich zu beruhigen, und noch einmal so viel Zeit, damit sie bereit war, sich erneut vor die Wohnungstür zu wagen, diesmal in Tuchfühlung zu ihm.
»Helmut Schneider«, las Lukas vom Partezettel, als kürte er den einzig Würdigen zum Sieger. Judith hatte sich hinter seinem Rücken verschanzt. »Judy, der Tote ist ganz ein anderer. Helmut Schneider. Kennst du einen Helmut Schneider? Kennst du das Gesicht?« – »Mein Wohnungsnachbar«, murmelte Judith. »Ein Rentner … Aber wie kommt das an meine Tür? Ich habe den Mann praktisch nie gesehen. Wieso hängt diese Nachricht in meiner Situation an meiner Tür? Das ist doch kein Zufall.« – »Wahrscheinlich hängt der Zettel an jeder Tür«, erwiderte Lukas, »wollen wir nachsehen?« – »Nein, ich will nicht nachsehen. Ich will, dass der Zettel an jeder Tür hängt. Und ich will keine Angst mehr haben. Ich habe es satt, Angst zu haben. Ich will schlafen und schön träumen. Und ich will aufwachen und an etwas Schönes denken. Lukas, kannst du bei mir bleiben? Nur bis es hell wird. Bitte, bleib da! Nur dieses eine Mal. Du kannst auf der Wohnzimmercouch schlafen. Oder du schläfst in meinem Bett und ich auf der Couch. Oder umgekehrt. Wie du willst.«
Am nächsten Morgen schmerzten zwei Köpfe. Der Kaffee half Judith rasch auf die Sprünge. »Lukas, ich glaube, ich muss ihn noch einmal treffen.« – »Ehrlich? Ist das klug?« – »Ich muss es tun. Ich sehe sonst Gespenster. – »Was willst du ihm sagen?« – »Keine Ahnung. Egal. Irgendwas. Hauptsache, ich sehe ihn. Dann jagt er mir nicht solche Angst ein.« – »Soll ich mitkommen?« – »Das würdest du tun?« – »Wenn es besser für dich ist.« – »Vielleicht kannst du später nachkommen und mich abholen.« – »Wie du willst.« – »Ja, ich glaube, so will ich es.« – »Und wie nimmst du Kontakt zu ihm auf?« – »Ich rufe ihn an, gleich heute oder morgen.« – »Judy, er liegt im Spital.« – »Ah ja, das hab ich vergessen. Scheiße.«
Phase acht
1.
24. September, sieben Uhr. Ihr Radiowecker schaltet sich ein. Zunächst das Wetter. Sie erschrickt. Tiefdruck. Sie zieht den Polster über den Kopf. Schwarz über grau. Schnell an etwas Schönes denken, Judith!
Sieben Uhr sechzehn. Sie ist wach genug, um nicht aufwachen zu wollen. Kein Antrieb. Kein Grund, die Augen zu öffnen. Was fehlt ihr? Fehlt wer? Fehlt der Mann an ihrer Seite, der Beschützer, der immer für sie da ist? Der sie in die Arme nimmt? Der sie streichelt. Der sie an sich drückt. Der sie mit seinem Körper zudeckt. Der sie sich spüren lässt, ganz tief. Der sie heftig atmen lässt. Atmen und zittern vor Freude und Erregung. Fehlt ihr die Erregung? Ist ihr die Lust vergangen? Nichts als finstere Gedanken, schwarz über grau?
Sie flüchtet unter die Dusche. Heißes Wasser. Das Badezimmer dunstig. Die Tür ist verschlossen. Niemand kann herein. Sie bleibt einsam mit sich. Im Spiegel – 37 Jahre. Schöne Frau mit schönem Gesicht. Schönes Gesicht mit unschönen Angstfalten. Schminke darüber. Bürotauglich sein. Dem Alltag gewachsen. Her mit dem hässlichen braunen Wollpullover, darunter entdeckt dich keiner. Hinein in die ehemals enge Jeans. Hängt wie ein loser Sack an deinen Hüften.
Sieben Uhr sechsundvierzig. Dicke grüne Herbstjacke. Die Frau mit dem goldgelben Haar verlässt das Haus. Links schauen. Rechts schauen. Durchatmen. Gut gemacht, Judith! Losgeworden. Abgeschüttelt. Kannst du weitergehen. Musst du dich nicht fürchten. Bist du ganz alleine. Auf dich gestellt. Kühler Tag, kaltes Leben.
Sieben Uhr neunundfünfzig. Kniefall vor dem Geschäft. Sie wühlt in ihrer schwarzen Umhängetasche. Wo ist der Schlüssel? Sie wird ihn doch nicht? Er wird ihn doch nicht? Gefunden. Sie sperrt das Lampengeschäft auf. Überraschung? Keine!
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