Ewig Dein
Autos auf? Endlich eine Stimme von früher, als sie noch ein Kind war.
Phase zehn
1.
»Kind, was machst du für Sachen?«, fragte ihre Mutter am Bettrand. Judith blinzelte. Ihre Augen mussten sich erst langsam an das weiße Neonlicht gewöhnen. »Wie spät ist es? Hab ich geschlafen?«, fragte sie. Eine blonde Stationsschwester mit schiefem Gebiss gesellte sich dazu, studierte das Patientenblatt, maß ihren Puls und lachte gekünstelt.
Es war Freitagmittag. Am Donnerstagvormittag hatten sie Judith mit der Diagnose »akute schizophrene Psychose« eingeliefert, erfuhr sie. Davor war sie angeblich in der Gegend herumgeirrt, hatte wahllos Passanten angepöbelt und wirres Zeug geredet. Sie war mehrmals über die Straße gelaufen, ohne auf den Verkehr zu achten. Schließlich war sie von einem Fahrzeug niedergestoßen worden. Der Unfall war zum Glück glimpflich verlaufen, sie hatte leichte Prellungen an Armen und Beinen und eine Platzwunde am Kopf erlitten. Der Notarzt hatte sofort die Einweisung in die psychiatrische Klinik veranlasst.
»Was ist passiert, Kind? Was ist los mit dir?« – »Mama, hör auf zu jammern, es ist ja wieder alles gut«, erwiderte Judith. Sie fühlte sich auf eher unangenehme Weise wie neugeboren, zerknautscht und zerdrückt, ausgerechnet im Spital an die Luft gesetzt, wo es nach mit Penicillin versetztem Kalbsgulasch roch, vom grell-sterilen Licht geblendet, noch nicht wirklich da, aber unendlich müde, und das nach angeblich beinahe vierundzwanzig Stunden Schlaf. Und schon wartete eine der größten Herausforderungen des Lebens auf sie – sie musste Mama beruhigen.
In dem jungen Assistenzarzt, der verschiedenfarbige Augen hatte, wobei ihm das dunkle eindeutig besser zu Gesicht stand, fand sie leider keine Unterstützung. Für ihn war physische Erschöpfung – Stress, Schlaf-, Nahrungs- und Vitaminmangel und ähnliche Dinge – der wahrscheinliche Auslöser für den psychotischen Schub gewesen. »Da spielt der Kopf dann irgendwann verrückt«, sagte der Arzt. »Kind, warum um Himmels willen isst du denn nichts?«, fragte Mama weinerlich. Judith: »Mama, bitte! Hier krieg ich Essen durch Schläuche, das ist viel bequemer, da braucht man kein Besteck.« – »Und warum schläfst du nicht? Was treibst du in der Nacht?« – »Sex, Mama, durchgehend Sex!« Der Assistenzarzt zwinkerte ihr mit dem uncharmanten helleren Auge zu.
»Und wann darf ich hier raus?«, fragte Judith. »Sie sind gerade erst gekommen und wollen uns schon wieder verlassen?« Nun spielte er den Beleidigten. »Nein, nein. Jetzt bleiben Sie schon eine Weile bei uns.« Und zur still applaudierenden Mutter: »Wir werden Ihre Tochter einmal ordentlich aufpäppeln, und dann schauen wir uns an, wo da der Wurm drinnen steckt.« Er meinte Judiths Kopf, und das war weder ein stilsicheres noch ein anmutiges Bild. Aber Mama nickte zufrieden. »Was Sie jetzt dringend brauchen, ist absolute Ruhe«, meinte der Mediziner. Vier Augen in drei Farben sahen Mutter an. Die verstand die Botschaft dennoch nicht und blieb eine weitere gute halbe Stunde.
2.
Am Sonntagnachmittag waren die Winningers – Lukas und »Familie« – bei Judith zum Kaffee eingeladen. Aus organisatorischen Gründen musste die Jause leider in den Besucherempfangsraum der psychiatrischen Klinik verlegt werden, den sie Cafeteria nannten. Sibylle und Viktor, die Kinder, kamen nicht mit. Wahrscheinlich sollte ihnen der Anblick der irren Tante Judith und ihrer Leidensgenossen erspart bleiben.
Lukas und Antonia saßen adrett nebeneinander, wie ein eineiiges Eiskunstlauf-Geschwisterpärchen beim Warten auf die Noten der Punkterichter, erzählten wahnsinnig lustige Geschichten aus der Provinz, richteten der Patientin von allen Personen, denen sie wenigstens einmal im Leben begegnet war, herzliche Grüße und die besten Genesungswünsche aus und stellten ihr überaus taktvolle Fragen, die das heikle Thema »Psychose« geschickt umrundeten.
Als die Plauderei dem Ende zuging, überwand Judith ihre vermutlich medikamentös herbeigeführte innere Ausgeglichenheit auf niedrigem Niveau und fragte Lukas betont beiläufig: »Hast du irgendwas über Hannes erfahren?« – »Ja«, erwiderte überraschend Antonia, und auch sie selbst schien von ihrem Zugeständnis überrumpelt worden zu sein. Judith wusste mit einem Mal, warum sie diesmal mit in die Stadt gekommen war und warum Lukas ein anderer war als jener, der versprochen hatte, ihr zur Seite zu stehen, wann immer sie ihn
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