Ewig Dein
ebenfalls einmal archiviert werden. Nun sah sich die Ärztin ihre Gehirnstromanalysen und dieses ganze Untersuchungszeug mit Kurven, Tabellen und Legenden an, schüttelte dann enttäuscht den Kopf, blickte geradezu mitleidig zu ihr auf und sagte: »Entsetzlich langweilig! Keine zerebralen Schädigungen, keine Störungen, keine Auffälligkeiten, keine Vorgeschichten, keine Unfälle, keine Erbschaften von der Gaga-Oma, gar nichts.« Die war ihr sympathisch.
Sie erklärte, dass eine schizophrene Psychose an sich nichts Aufregendes sei, dass jeder hundertste Mensch in seinem Leben zumindest einmal davon heimgesucht würde. »Für Sie ist das natürlich nichts Aufregendes, Sie kennen ja fast nur hundertste Menschen«, stellte Judith fest. Reimann lachte herzhaft, dieser Gag dürfte ihr tatsächlich neu gewesen sein.
Jedenfalls freute sie sich, Judith mitteilen zu dürfen, dass jedem vierten Psychose-Patienten eine zweite Episode der realitätsfernen Art erspart blieb. »Und wenn Sie brav Ihre Neuroleptika nehmen, vor oder nach dem Zähneputzen, ganz egal, nur nicht währenddessen, dann sind Sie mit Sicherheit eine vierte!« Mit dieser Frau konnte man verhandeln, dachte Judith.
Gleich sollte es aber doch unangenehmer werden. Judith musste erstmals von ihrem »Vorfall« erzählen. »Tut mir leid, daran kann ich mich nur noch bruchstückhaft erinnern«, wehrte sie sich. »Bestens«, erwiderte Reimann, »ich liebe Bruchstücke. Mit dem Zusammensetzen derselben beschäftige ich mich oft wochenlang. Also nur zu!«
Judith: »Es war nach einer Nacht, in der ich nicht schlafen konnte. Danach weiß ich leider nicht mehr viel.« Reimann: »Warum nicht?« Judith: »Was?« Reimann: »Warum konnten Sie nicht schlafen?« – »Weil ich anscheinend nicht müde genug …« – »Weil Sie Stimmen gehört haben?« – »Wieso glauben Sie das?« Reimann: »Weil das recht beliebt ist unter hundertsten Menschen.« Judith: »Dann muss ich Sie enttäuschen. Ich habe KEINE Stimmen gehört. Deshalb, äh, konnte ich vielleicht nicht einschlafen.« – Jessica Reimann rieb sich die Hände: »Das gefällt mir, endlich einmal andersrum! Und weiter?« – »Wie weiter?« – »Was war am nächsten Tag?« – »Ich war k.o., niedergeschlagen, streichfähig, aber irgendwie aufgedreht, wie in Trance, ferngesteuert, was weiß ich.«
»Was belastet Sie?« – »Hm, schwer zu sagen«, log Judith. So gut kannten Sie einander noch nicht. »Ist es Ihr Job?« – »Nein, sicher nicht.« Judith lächelte. »Dann also Ihr Privatleben.« – »Habe ich schon lange keines mehr.« – »Die keines haben, haben oft das intensivste, die haben es nämlich ganz für sich allein«, sagte Reimann. Und danach, schon ein wenig ungeduldig: »Also wer ist es? Die Mama, der Papa, der Freund, der Ex, der Lover, dessen Ehefrau, deren Hauskaninchen? Alle zusammen? Wer nervt Sie? Was reibt Sie auf? Worunter leiden Sie?«
Judith senkte den Kopf und tat so, als würde sie angestrengt nachdenken. »Okay, lassen wir das, ist ja IHR Privatleben«, sagte Reimann bemerkenswert freundlich. »Sie haben dann also irgendwann das Haus verlassen. Woran erinnern Sie sich?« – »An viele Menschen, die sich über mich gebeugt haben. Ich muss in meiner Verwirrung in ein Auto gerannt sein.«
»Wer hat Sie dort hingetrieben?« Judith zuckte zusammen. Die Frage war erschütternd konkret und indiskret zugleich. »Stimmen?«, fragte Reimann. Da Judith nichts herausbrachte, bohrte sie weiter: »Stimmen, die Ihnen Befehle erteilt haben?« – »Nein, Befehle waren keine dabei«, sagte sie, »nur Empfehlungen.« Reimann lachte, das tat gut. »Und was empfahlen sie Ihnen?« – »Die Straße zu überqueren.« – »Keine gute Empfehlung.« – »Das weiß ich heute auch«, sagte Judith, »ich werde einfach nicht mehr auf sie hören.« Phasenweise machte ihr das Gespräch richtig Spaß.
»So, wir sind gleich fertig«, versprach Jessica Reimann. Judith ahnte, was noch kommen würde. »Wem gehören die Stimmen?« Natürlich. Judith seufzte. »Die sind gar nicht so leicht wem zuzuordnen. Es ist, wie soll ich sagen, eine Mischung aus Bekannten und Verwandten und Fremden …« – »Okay, lassen wir das«, sagte Reimann neuerlich, als hätte sie den Schwindel durchschaut. »Jetzt dürfen Sie wieder relaxen und das köstliche Spitalsessen genießen.«
Bei der Verabschiedung musterte die Ärztin sie noch einmal von oben bis unten und bemerkte dann, diesmal ziemlich ernst, geradezu sorgenvoll: »Auch ich
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