Ewig Dein
habe eine Empfehlung für Sie.« – Judith: »Und zwar?« – Reimann: »Verschließen Sie sich nicht! Vertrauen Sie denen, die es gut mit Ihnen meinen. Gehen Sie auf Ihre Freunde zu. Psychische Probleme drückt man niemals alleine durch. Der beste Nährboden für ewige hundertste Menschen ist die Isolation.«
4.
Am Freitag hätte sie die Klinik verlassen dürfen. Doch abgesehen von der chronischen Scheußlichkeit eines zwangs-koffeinfreien Kaffees – man trank ja auch keinen alkoholfreien Alkohol – gefiel es ihr hier auf der Station von Tag zu Tag besser, weshalb sie ihren Kuraufenthalt, im Zuge dessen sie bereits vier Kilo zugenommen hatte, übers Wochenende verlängerte. Sehr zur Freude ihres zweifarbäugigen Leibarztes, der den Grund für Judiths Verweillust bei sich selbst vermutete und die Intervalle der Visiten dramatisch verkürzte. Kurzum: Er hatte ein Auge auf sie geworfen. Leider das falsche.
Reimanns Empfehlung nahm sie sich so schnell und so sehr zu Herzen, dass ihr Spitalsaufenthalt alsbald Wohngemeinschaftscharakter hatte. Nach und nach lud sie alle ihre Freunde von früher ein und holte sich Serien von Komplimenten, wie gut sie aussah, wie fröhlich, locker und erholt sie wirkte, wie schön doch ihr Lachen war und wie sexy ihr kurzes weißes Nachthemd. Der Zuspruch von außen motivierte sie, machte sie geradezu euphorisch. So einen rasanten Heilungsprozess des Gemüts in einer psychiatrischen Anstalt musste ihr erst einmal jemand nachmachen.
Und plötzlich hatte sie auch wieder ein bis zwei offene Ohren für die Sorgen der anderen, für deren belastenden Alltagskleinkram, der sich immer nur notdürftig zur Seite schaufeln, aber niemals wegräumen ließ. Bald würde sie sich auch wieder über die wunderbaren Nichtigkeiten aufregen können, über fehlende Müllsäcke, über Fruchtfliegen-Brigaden in der Obstschüssel, über Socken, die nach dem Waschgang den Partner gewechselt hatten und mit diesem farblich oder stofflich nun nicht mehr harmonierten.
Ein paar schwierige Phasen galt es wohl noch zu überstehen, dachte sie, dann würde ihr Trauma überwunden sein. Zuletzt gelang es ihr sogar ein paar Mal, an Hannes zu denken, ohne in Unruhe zu geraten. Da er all ihre Freunde und mittlerweile selbst Lukas von seinen guten Absichten überzeugt hatte, war es wahrscheinlich doch sie allein gewesen, die sich die Dinge immer so zusammengereimt hatte, dass Hannes am Ende ihr Dämon war, die dunkle Seite ihrer Seele.
In den Nächten hörte sie jedenfalls weder Geräusche noch Stimmen, noch sonst etwas Befremdliches. Und sie rechnete auch gar nicht mehr damit. Natürlich drückte sie die Chemie abends immer ein wenig nieder und ließ sie künstlich tief in den Schlaf fallen, aber beim Erwachen in der Früh war ihr Kopf klar, und sie schaffte es, ohne Angst in die Zukunft zu blicken. Draußen dann würde sie ihr »Privatleben« in Angriff nehmen, um irgendwann einmal mit einem ehetauglichen Mann eine stinknormale Familie zu gründen, so in etwa dreißig, vierzig Jahren ungefähr. Wenn sie so dachte, war sie bereits wieder eine von neunundneunzig.
Am Sonntagnachmittag, vor ihrer letzten Nacht im Spital, kam dann auch noch Bianca zu Besuch und strahlte sie schon von weitem an. »Frau Chefin, Sie sind ja urdick geworden im Gesicht, man sieht gar keine Backenknochen mehr«, meinte sie, »aber trotzdem haben Sie irgendwie noch immer die Figur von Kate Moss. Und das ist unfair! Wenn ich zu viel esse, geht immer volle alles in den Busen und in den Hintern.« Überdies sei sie in dieser Woche, in der sie das Geschäft alleine geführt hatte, um mindestens zehn Jahre gealtert, so stressig sei es gewesen, schilderte das Lehrmädchen. »Kaum wird es früher finster, kaufen alle Lampen«, beschwerte sie sich.
»Bianca, ich bin echt stolz, dass du das dichte Programm ganz alleine bewältigt hast«, sagte Judith, nachdem sie sich einen Überblick verschafft hatte. Bianca: »Hat eigentlich eh Spaß gemacht. Außerdem …« Jetzt zappelte sie aufgeregt herum. Judith: »Was außerdem?« – Bianca: »Außerdem habe ich volle eine Überraschung, die noch auf Sie wartet!« Judith: »Komm, sag schon!« – Bianca: »Nein, erst im Geschäft. Sie werden es dann eh gleich sehen.« Ihre Lippen bogen sich zu einem konturenscharfen lila Halbkreis nach oben.
5.
Montagvormittag verließ sie die Station und fuhr, vom Bodennebel begleitet, mit dem Taxi nach Hause. Im Stiegenhaus hätte sie, um die Stille zu brechen,
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