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Ewig Dein

Ewig Dein

Titel: Ewig Dein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Glattauer
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Judith sich fürchtete, weil sie so zitterte. Judith: »Momentan vor Ihnen.« Reimann: »Das kann ich Ihnen nachfühlen, meine Liebe. Sie lassen sich ja ordentlich gehen!« Judith: »Ich weiß, aber ich kann nichts dagegen tun. Am besten, Sie weisen mich wieder in die Anstalt ein.« Reimann: »Nein, nein, das bringt uns hier gar nicht weiter. Ich schlage vor, jetzt wird einmal gearbeitet!«
    Judith musste, nachdem sie an Puls und Herz gemessen und unter den Augenlidern ausgeleuchtet worden war, ihre Dös- und Dämmerzustände der vergangenen Wochen beschreiben, noch dazu zyklisch, morgens, mittags, abends, nachts – ein mehr als aufreibendes Unterfangen, denn eigentlich gab es nur jene Worte dafür, die ihr seit geraumer Zeit fehlten. Zur Belohnung setzte Reimann gleich einmal zwei der Medikamente ab, und bei den anderen, darunter ihre weiße Lieblingspille, ging sie mit der Dosierung auf die Hälfte zurück.
    »Ich vermisse bei Ihnen den Kampfgeist«, sagte die Psychiaterin sorgenvoll und drückte fest ihre Hand. »Sie müssen sich aufbäumen. Ihre Gesundheit ist eine reine Kopfdisziplin. Sie müssen denken und an sich arbeiten, nicht verdrängen. Sie müssen zum Kern Ihres Problems vordringen.«
    Judith: »Ich habe kein Problem mehr, ich BIN das Problem.« Das hätte sie nicht sagen sollen, jetzt war Reimann beleidigt. »Wenn sich bereits Patienten wie Sie aufgeben, können wir hier zusperren. Wie sollen wir denen helfen, die wirklich schwerkrank sind?« – »Sie glauben also nicht, dass ich schwerkrank bin?«, fragte Judith. »Ich sehe nur, dass Sie es offenbar um jeden Preis werden wollen und deshalb schon auf dem besten Weg dazu sind«, erwiderte Reimann. »Und so was mit ansehen zu müssen, macht MICH krank!«
     
5.
     
    Zwei Tage probierte sie es ohne Tabletten und versuchte sie, ihr Vakuum im Kopf mit Gedanken über den Ursprung ihrer Probleme zu füllen. So ähnlich mussten sich Heroinsüchtige im Übergang von Entzug auf wiedergewonnene Sinnkrise fühlen. Wenn sie sich einbildete, gar nicht schwerkrank zu sein, was nun in immer kürzeren Intervallen geschah, ging es ihr postwendend schlechter. Es war mit der tristen Aussicht verbunden, plötzlich wieder alleine dazustehen. Keiner würde sich mehr um sie kümmern. Nicht einmal ihre Mama hätte die verpflichtende Berechtigung, für sie da zu sein und sie anzujammern.
    In der Therapiestunde gab sie sich einen Ruck und erzählte Arthur Schweighofer von ihrem irren nächtlichen Klangerlebnis, ausgelöst durch einen spanischen Kristallluster. Dank Sigmund Freud war er fest davon überzeugt, dass sich in ihrer Kindheit im Lampengeschäft unbewusste dramatische Szenen abgespielt haben mussten. Eine Weile dachten sie beide nach und betrieben angestrengt Brainstorming, dann gelang es Judith, das Gespräch langsam wieder in Richtung Abenteuerurlaub und Segelschein zu lenken.
    In der ersten der beiden schlaflosen Nächte hatte Mama auf sie aufgepasst, beziehungsweise umgekehrt: Judith hatte aufgepasst, dass Mama nicht wach wurde und sie fragte, warum sie nicht schlief. Am zweiten Abend hätte Hannes kommen sollen. Aber bereits am Nachmittag kündigte er an, dass es später werden würde. Und gegen neun Uhr sagte er endgültig ab: Es täte ihm schrecklich leid, aber eine Kollegin wäre erkrankt, und er müsste das von ihr betreute Projekt bis zum nächsten Morgen, dem Ende der Einreichungsfrist, fertigstellen.
    Bis Mitternacht ging Judith in ihrer Wohnung auf und ab, schaltete alle Lichter an, drehte – um allfällige irreale Geräusche und Stimmen zu übertönen – Radio, Fernsehen und sogar die leere Waschmaschine auf, las sich selbst laut aus »Das Wetter ist schön, das Leben auch« von Anna Gavalda vor und summte Weihnachtslieder. Danach war sie so weit vom Schlaf entfernt und so nahe am Abgrund der nächsten heftigen Angstattacke, dass sie sofort entweder ihre Mutter oder den Notarzt oder beide anrufen musste. Oder – und für diese Variante entschied sie sich schließlich – sie nahm wieder ihre Tabletten in altbewährter Dosis, zuerst die weißen gegen die tiefe Traurigkeit, dann die restlichen zum Anlegen der Ritterrüstung, für die rettende Müdigkeit und für die erlösende Leere in ihrem Gehirn, die sie endlich in den Schlaf gleiten lassen würde.
     
6.
     
    Als sie am nächsten oder übernächsten Tag von ihrem schlechten Gewissen aufgeweckt wurde, hörte sie Stimmen, die zur Wirklichkeit gehörten und aus der Küche kamen. Mama und Hannes

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