Ewig Dein
Vorwurfs mit, in welch miserablen Zustand sie geraten war, wie schwer an sie heranzukommen war, wie wenig sie von sich hergeben konnte.
Während Gerd und die anderen größte Mühe hatten und oft daran scheiterten, ihre Verzweiflung über Judiths Teilnahmslosigkeit zu verbergen, schien das für Hannes die selbstverständlichste Sache der Welt zu sein. Er nahm Judith tatsächlich so, wie sie war, so wenig »sie selbst« konnte sie gar nicht sein. In seiner Gegenwart schämte sie sich nicht für ihre Krankheit und hatte kein schlechtes Gewissen, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Wenn er da war, begann sie sich mit ihrem Schicksal abzufinden, nein, mehr noch – anzufreunden.
3.
Bald schaute er auch werktags öfter bei ihr vorbei. Meistens sprang er für einen der Freunde ein, die zunehmend verhindert waren und bereits Mitte November den Vorweihnachtsstress ausriefen, um Judith leider nicht mehr so oft besuchen zu können. Wahrscheinlich waren sie über alle Maßen enttäuscht und genervt, dass Judiths Geist keine Anstalten machte, heller zu werden, dass es keine Gespräche mehr mit ihr gab, dass sie oft stundenlang die Wände anstarrte und den Mund nicht aufmachte. Aber was sollte sie ihnen erzählen? Sie erlebte ja nichts außer leeren Tagen und hohlen Nächten. Keiner von ihnen konnte sich vorstellen, wie anstrengend das war. Dann auch noch darüber reden?
Hannes war anders. Er verlangte nichts von ihr, sondern ging seinen eigenen Beschäftigungen nach, dekorierte Tische und Regale, putzte die Küche (am liebsten, wenn sie ohnehin sauber war), hörte Musik, pfiff Ohrwürmer, die man noch aus der Schulzeit kannte, surfte durch die TV-Kanäle auf der Suche nach seriösen Nachrichtensendungen, blätterte in Sachbüchern oder – noch lieber – in ihren Fotoalben, machte sich Notizen und Skizzen, fertigte kleine Entwürfe an. Dies alles, ohne Judith jemals aus dem Augenwinkel zu verlieren. Er hielt sich immer in ihrer Nähe auf, zwinkerte ihr stets aufmunternd zu, lächelte sie an. Aber, und hier unterschied er sich auf angenehmste Weise von allen anderen: Er sprach kaum ein Wort mit ihr, ersparte ihr somit auch die Mühsal einer ständigen Antwort auf die Frage, wie es ihr ging. Er wusste es offenbar besser als sie selbst.
Wenn er über Nacht blieb, merkte sie nichts davon. Vermutlich schlief er auf der Couch. Jedenfalls war er immer schon vor ihr wach, ließ es aus der Küche nach Kaffee duften und hatte alle Spuren seiner nächtlichen Anwesenheit beseitigt.
Nur in einer dieser in dichten Kopfnebel gehüllten Novembernächte gerieten ihr die Dinge außer Kontrolle. Möglicherweise hatte sie am Abend eines ihrer Medikamente vergessen oder eines doppelt genommen. Vielleicht war sie auch in einen Albtraum geschlittert, der sie plötzlich aus dem wattebauschigen Dämmerzustand riss und in ihr die alten Ängste wachrüttelte, sie werde von Stimmen und Geräuschen verfolgt und auf die Straße getrieben. Schon glaubte sie, das charakteristische Schwingen der Blechplatten und das einzigartige Klirren der Kristalle ihres spanischen Lusters zu vernehmen. Doch bevor die Stimme, die Hannes imitierte, »dieses Gedränge« sagen konnte, verstummten die Geräusche. Das Nachtkästchenlicht ging an. Judith spürte, wie sich eine große kühle Hand auf ihre fiebrig-heiße Stirn legte. Dann beugte er sich behutsam über sie und flüsterte: »Beruhige dich, mein Liebling. Alles ist gut, ich bin bei dir, es kann dir nichts geschehen.« – »Hast du es auch gehört?«, fragte sie, bebend vor Angst. »Nein«, erwiderte er, »ich habe nichts gehört. Wahrscheinlich hast du schlecht geträumt.« Judith: »Bleibst du hier bei mir, bis es hell wird?« Hannes: »Willst du das?« Judith: »Ja, bitte bleib. Nur bis die Sonne aufgeht.«
4.
Ende November hatte sie ihren mit Bangen erwarteten Untersuchungstermin bei Jessica Reimann. Mama begleitete sie, aber das konnte die Sache auch nicht mehr schlimmer machen. Judith hatte Waschzeug, Kosmetika, ein paar Nachthemden und T-Shirts eingepackt. Sie rechnete damit, dass man sie gleich im Spital behalten würde. Jedenfalls hatte sie keine Lust, ihre Situation besser darzustellen, als sie war, auch wenn sich Reimann einen anderen Anblick verdient hätte als jenen, den sie ihr sogleich bieten würde.
»Hallo, wie geht es Ihnen?«, fragte die Ärztin. »Danke, ich bin geisteskrank«, erwiderte Judith. Reimann lachte, aber diesmal täuschte sie die Erheiterung nur vor und fragte, wovor
Weitere Kostenlose Bücher