Ewig
nach unten hastete. Er erinnerte sich mit Schrecken daran, dass er die Porzellanvase, in der er wahllos alle Schlüssel gesammelt hatte, in die Dunkelheit geworfen hatte, um den Angreifer abzulenken. Wo war sie gelandet? Wagner suchte verzweifelt den Fußboden des großen Raums ab und fand schließlich in einer Ecke Scherben und überall verstreute Schlüssel. Eilig hob er sie auf und füllte seine Taschen, dann drängte es ihn nach draußen.
Kalter Wind pfiff ihm trotz des trügerischen Sonnenscheins um die Ohren und um seine nackten Beine. Nur mit seinem Bademantel und den Pantoffeln bekleidet musste er für jeden Beobachter einen seltsamen Anblick bieten. Das war ihm im Augenblick aber vollkommen egal. Mehrmals umkreiste er seinen Lokschuppen, drückte jede Klinke, drehte jeden Knauf, sperrte alle offenen Schlösser ab und prüfte sogar genau die Beschläge. Das hatte er zuvor noch nie gemacht und es widerstrebte ihm auch jetzt. Aber so konnte er wenigstens sicher sein, von ungebetenen Gästen nicht mehr überrascht zu werden. Ein mulmiges Gefühl blieb trotz allem. Die gestrige Erfahrung würde wohl nicht so schnell verblassen. Wie lange würde es dauern, bis sie ganz verschwunden war?
»Hast du dir schon einmal überlegt, eine Alarmanlage zu kaufen, wie Berner es dir geraten hat, Paul?«, fragte ihn Sina später, als er mit einer weiteren dampfenden Tasse Tee neben Wagner am Küchenblock lehnte.
»Nein, das erschien mir nie notwendig. Ich habe immer geglaubt, so etwas wie heute Nacht kann nur den Leuten passieren, über die ich immer schreibe, aber nicht mir«, antwortete Wagner und nahm einen großen Schluck von seinem Espresso.
»Ja, das kenne ich gut«, nickte Sina. »Man liest die Unfallberichte, sieht sich schaudernd die Fotos an, aber selbst fühlt man sich unverwundbar, bis eines Tages …« Der Wissenschaftler brach ab und senkte den Kopf. War es bei Clara nicht auch so gewesen? Wagner wollte etwas einwerfen, aber Sina winkte nur resignierend ab.
»Es ist schon gut, Paul. Vergiss Pater Johannes für einen Moment, auch wenn es schwerfällt. Wenn wir hinter dieses Geheimnis kommen wollen, dann müssen wir jetzt nach vorne blicken oder aufgeben.« Sina nahm einen Schluck Tee und fuhr fort: »Dir muss eines klar sein. Ab jetzt wird es nicht mehr darauf ankommen, wo wir gerade sind, ob bei mir oder bei dir oder unterwegs, da mache ich mir keine Illusionen mehr. In meiner Ruine ist außerdem kein Platz für mehr als einen, der am Leben gescheitert ist«, meinte er ironisch. »Wenn sie wollen, dann werden sie uns überall finden. Und sie werden es wollen.« Wagner nickte und Sina legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Was machen wir also als Nächstes?« Er sah den Reporter fast wie ein Kind an, das von einem Erwachsenen erwartet, eine Spielanleitung vorgelesen zu bekommen.
Wagner schaute ihn erstaunt an. »Du bist gut, Georg, schau dich doch einmal hier um. Da hat noch vor wenigen Stunden jemand herumgeballert und du hast ihm zwei von meinen Küchenmessern verpasst, erinnerst du dich? Übrigens bin ich froh, dass die Polizei sie mitgenommen hat, ich würde sie nie wieder benutzen …Mir reicht schon das Blut da drüben auf dem Fußboden. Ich weiß nicht, wie du jetzt nur ans Weitersuchen denken kannst.« Er schüttelte den Kopf, konnte sich nur schwer mit der scheinbar unterkühlten Art seines Freundes abfinden.
»Reiß dich zusammen, Paul«, forderte Sina. »Wenn du jetzt den Kopf verlierst, kann ich meinen nicht mehr benutzen.«
Wagner musste sich immer mehr über Sina wundern. Immerhin war er es gewesen, der den Amok laufenden Priester außer Gefecht gesetzt hatte, einen Menschen schwer verletzt hatte, auch wenn es ein Amok laufender Priester gewesen war. Bis auf einen ersten kurzen Schock schien sein Jugendfreund die Nacht gut verkraftet zu haben. War es ihm gleich, ob er seine Messer auf Spielkarten oder Menschen warf? Hatten sie als Ziel die gleiche Wertigkeit in seinen Augen?
»Nein, ein Mensch ist kein Pik-Ass«, erriet Sina die Gedanken seines Schulfreundes.
»Woher …«, setzte Wagner an.
Sina lächelte wissend. »Ich kenne dich gut genug, um zu ahnen, was du denkst, wenn du mich so ansiehst. Das gestern Abend, das war eine jener Situationen, wo man zuerst handelt und dann Angst bekommt. Weil man sonst stirbt, wenn man zu lange nachdenkt. Aber eines wird mir jetzt langsam bewusst: Wenn dieses Geheimnis, was auch immer es ist, so wertvoll ist, dass uns dieser Pfarrer, ohne mit der Wimper
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