Ewige Versuchung - 5
Lass mich nur rasch Temple Bescheid sagen.«
Kimberly hielt sie zurück, indem sie ihr eine Hand auf den Arm legte. »Nein, weck ihn nicht! Ich habe Agnes erzählt, was ich vorhabe, so dass sie es ihm sagen kann, sollte er zwischenzeitlich aufwachen. Doch ich bin sicher, dass wir bis zum Nachmittag wieder zurück sein werden.«
Vivian stutzte. Wie Marcus gesagt hatte, vermutete er, dass Agnes im Grunde unschuldig und unter Vorgaukelung falscher Tatsachen zur Botin des Ordens gemacht worden war. Aus seinen Gesprächen mit ihr vortags folgerte er, dass sie nichts über die wahren Pläne des Ordens wusste und glaubte, sie würde Vivian helfen – und mit ihr auch den Vampiren und der Schwesternschaft. Ungeachtet seiner Beteuerungen jedoch, war Vivian nicht willens, der Magd blindlings zu vertrauen.
Kimberly hingegen vertraute sie.
»Wann möchtest du aufbrechen?«, fragte sie und hoffte, dass es bald wäre. Sie wollte weg sein, bevor Temple aufwachte. Ehe sie ihn wiedersah, musste sie zunächst einen klaren Kopf bekommen und ihre wirren Gedanken ordnen.
Lächelnd sah Kimberly zu der alten Standuhr hinter Vivian. »Das Boot, das ich bestellt habe, wird in einer halben Stunde bereit sein. Ich hole meinen Umhang, dann nehmen wir meinen Zweispänner.«
Vivian konnte ihr Glück kaum fassen. Sie eilte nach oben, um sich ihren eigenen Umhang zu schnappen, obgleich es aussah, als würde es ein warmer Tag. Die Frauen und Vampire in der Garden Academy mochten an ihrem Kleidungsstil keinen Anstoß nehmen, doch auf dem Festland gab es reichlich Menschen, die empört wären, eine Frau in Hosen zu sehen. Trug sie überdies nur ein Hemd, würde das alles noch schlimmer machen. In ihrem Zimmer bürstete sie sich das Haar und flocht es zu einem Zopf.
Keine zehn Minuten später verließen sie das Anwesen in der kleinen Kutsche, die Kimberlys Stallbursche zuvor angespannt hatte.
Kimberly fuhr, und Vivian überließ ihr sehr gern die Zügel, während sie ihr Gesicht in die Sonne streckte und die frische Luft genoss. Sie liebte Sommermorgen, wenn das Gras noch taufeucht und die Luft süßlich-frisch war, unbelastet von der drückenden Hitze, die sich bisweilen gen Mittag einstellte.
Auf der Fahrt machte Kimberly höfliche Konversation, erzählte, wie sehr sie sich auf die Zeit freute, wenn ihre Schülerinnen wieder da wären, und wie sie es genoss, die Schule zu leiten. Vivian lauschte interessiert, sprach lediglich, wenn sie unbedingt musste, und hörte für den Rest zufrieden zu. Kimberlys Gesellschaft war überaus angenehm. Umso unverständlicher war Vivian heute, dass sie einst eifersüchtig auf sie gewesen war.
Kimberly lenkte die Kutsche bis auf das wartende Boot und bald darauf am anderen Ufer wieder hinunter.
»Ich gönne mir häufig solche privaten Überfahrten«, bemerkte Kimberly, als sie über den etwas holprigen Weg fuhren. »Sie sind so viel komfortabler, als auf die Fähre warten zu müssen, die nur zweimal täglich verkehrt.«
»Ja, das verstehe ich gut«, stimmte Vivian ihr zu. »Bisweilen stört es gewiss, den Gezeiten ausgeliefert zu sein.«
Ihre Gefährtin lächelte. »Du machst dir keinen Begriff, wie sehr.«
Für eine Weile schwiegen sie. Vivian nutzte die Zeit, um die wunderschöne Landschaft zu betrachten: rustikales Grün mit sanft abfallenden Hügeln. An den Hängen weideten Schafe, die aus der Entfernung wie kleine weiße Wolken aussahen.
»Als Erstes fahren wir zu einem Tuchhändler am Ort«, klärte Kimberly sie auf. »Ich möchte ein paar Stoffe für neue Vorhänge im östlichen Schlafsaal kaufen.«
Kein Wunder, dass sie Vivian gebeten hatte, sie zu begleiten! Unmöglich konnte eine Frau von Kimberlys zarter Statur Stoffballen heben, geschweige denn herumtragen.
Ungefähr eine Dreiviertelstunde fuhren sie, bevor sie im Hof eines hübschen Hauses hielten, das zwar belebt war, aber nicht so belebt, wie man es von einem Kaufmannshaus erwarten würde. Eigentlich sah es gar nicht wie das Haus eines Händlers aus.
»Es ist noch früh am Tage«, erinnerte Kimberly sie, als Vivian darauf hinwies. »Der Besitzer ist ein Bekannter von mir und erlaubt, dass ich ihn außerhalb seiner regulären Geschäftszeiten aufsuche.«
»Nun, da darfst du dich glücklich schätzen«, erwiderte Vivian, die mit Kimberly aus dem Zweispänner stieg. Etwas an diesem Ort war dennoch beunruhigend, auch wenn Vivian nicht sagen konnte, was es war.
Sie folgte Kimberly hinein. Diesmal kam sie sich nicht wie ein Riesentrampel
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