Ewige Versuchung - 5
dass sie es auch nur wagte, an einen friedlichen Ausgang dieser Mission zu glauben! Entweder Rupert scheiterte oder Temple, und in beiden Fällen hätte sie maßgeblich an ihrem Untergang mitgewirkt.
Sie wusste, auf welcher Seite ihr Verstand war, aber ihr Herz? Ihr Herz stellte ihr viel zu viele Fragen – zumeist welche nach Rupert und dem Silberhandorden.
Es wäre ungleich leichter, wäre Temple der Schurke, als den Rupert ihn darstellte. Aber er war ausnahmslos zärtlich zu ihr. Fraglos war er arrogant und spielte sich als Herr auf, doch von der Gewalt, die sie erwartet hatte, entdeckte sie keine Spur. Er war vollkommen anders, als sie gedacht hatte.
Vielleicht wartete er auf den passenden Moment, um ihr sein wahres Wesen zu enthüllen, führte ihr Verstand an. Oder vielleicht irrte Villiers sich, entgegnete ihr Herz.
Es mochte allerdings auch sein, dass beide Männer sie als Bauern in ihrem grausamen Schachspiel betrachteten. Ohne sie hatte keiner von ihnen etwas in der Hand. Rupert behauptete, sie wäre »sehr wichtig« für seine Pläne, dass er sie an seiner Seite brauchte, wenn sich alles zusammenfügte, aber mehr Informationen vertraute er ihr nicht an. Temple hielt sie gefangen, weil er wusste, dass sie Rupert nahestand, da sie so dumm gewesen war, ihn in ihr dunkelstes Geheimnis einzuweihen.
Falls sie weglief, könnte keiner von beiden sie benutzen. Und sie hätte eventuell die Chance, herauszufinden, was für eine Rolle ihr in diesem Spiel zugedacht war.
Dann hörten womöglich auch die Frauen auf, über sie zu tuscheln.
»Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?«
Vivian drehte sich um und entdeckte Miss Cooper-Brown, die an der Tür stand, ein Teetablett in den Händen. Sie kannte Temple gut – vermutlich besser, als Vivian wissen wollte. Aber sie könnte ihr vor allem sagen, warum die anderen Frauen Vivian so seltsam beäugten.
»Sehr gern«, antwortete Vivian. Tatsächlich war sie froh, Gesellschaft zu haben.
»Brownie«, wie Temple sie nannte, kam mit raschelnden Röcken in den Salon, umgeben von einem zarten Rosenduft. Sie war ausgesprochen klein und zierlich. Ihr Haar war perfekt frisiert, ihr blaues Kleid makellos geglättet und gewendet. Nirgends ein Fältchen – auch nicht in ihrem Gesicht.
Vivian strich sich über die Hose, wobei sie sich ihrer kräftigen Oberschenkel gewahr wurde. Neben dieser Frau, dieser Dame, war sie eine klobige Riesin ohne Geschmack, ohne Manieren und ohne Grazie.
Trotzdem sah Miss Cooper-Brown sie an, als wäre Vivian ein Wunder, faszinierend und schön.
Rasch setzte Vivian sich auf einen der kleinen hochlehnigen Stühle am Teetisch. Das Möbel war robuster, als es schien: Der Stuhl knarrte nicht einmal unter ihrem Gewicht. Vor allem aber überragte sie in dieser Position die andere Frau nicht mehr allzu sehr, was die Situation ein klein wenig behaglicher machte. Allerdings änderte es nichts daran, dass sie an solcherlei nicht gewöhnt war. Rupert hatte sie höfliche Umgangsformen gelehrt, nur hatte sie wenig Gelegenheit gehabt, sie zu üben. Ungleich geübter war sie darin, andere mit ihrer Statur einzuschüchtern. Deshalb gefiel ihr nicht, dass sie die Eingeschüchterte war, schon gar nicht von einer Frau, die ihr kaum bis zur Brust reichte.
Miss Cooper-Brown setzte sich ebenfalls, zu Vivians Rechten. Feierlich lächelnd schenkte sie ihnen beiden Tee in die vergoldeten Porzellantassen. »Honig?«, fragte sie.
Vivian nickte. »Und Sahne, bitte.« Sie mochte ihren Tee süß und schwer. Als sie ein Kind war, hatte er entweder zu bitter oder zu schwach geschmeckt, je nachdem, wie viele Blätter sie zur Verfügung gehabt hatten, und er war niemals gesüßt oder mit Milch verfeinert worden.
Ihre Gastgeberin reichte ihr eine Tasse, die herrlich aussah und duftete. »Ich habe auch Sandwiches mitgebracht.«
Vivian dankte ihr und hoffte, die ältere Frau hörte ihren Magen nicht knurren. Nachdem sie von dem göttlichen Tee getrunken hatte, stellte sie Tasse und Untertasse ab, um drei winzige Gurken-Sandwiches auf ihren Teller zu legen. Es gab auch Sandwiches mit Roastbeef und Schinken. Von diesen nahm sie sich jeweils eines, ohne darauf zu achten, ob sie gierig wirkte. Seit dem Frühstück hatte sie nichts gegessen, und sie war entsprechend ausgehungert.
Miss Cooper-Brown nahm sich gleichfalls mehrere Sandwiches. »Wie erfreulich doch die Gesellschaft einer Dame ist, die das Essen ebenso zu würdigen weiß wie ich!«, bemerkte sie schmunzelnd.
»Ich danke
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