Ewige Versuchung - 5
Ihnen für Ihre Gastfreundschaft.« Was nicht unbedingt gelogen war. Vivian mochte Temples Gefangene sein, aber diese Frau gestattete ihr, sich hier aufzuhalten. Und sie erwies ihr größere Freundlichkeit, als irgendeine andere es seit sehr langem getan hatte.
»Die anderen Damen haben Sie hoffentlich nicht belästigt, meine Liebe.«
Vivian, die gerade in ein Sandwich gebissen hatte, schluckte. »Mich belästigt? Aber nein, keine von ihnen hat ein Wort mit mir gesprochen. Allerdings … starren sie mich an.« Sie blickte zu der anderen auf. »Wissen Sie zufällig, warum sie das tun?«
Für einen kurzen Moment schien es, als hätte Miss Cooper-Brown sich übel verschluckt. Dann jedoch nahm sie einen Schluck Tee, und ihre normale Gesichtsfarbe kehrte zurück. »Ich bin sicher, dass keine von ihnen Sie kränken …«
»Oh, ich bin keineswegs gekränkt«, fiel Vivian ihr ins Wort. »Ich finde es lediglich ein wenig, nun ja, verstörend.«
Eine puppengleiche Hand strich ihr sachte übers Knie. »Viele der Mädchen, die hier arbeiten, kennen die Welt jenseits dieser Insel nicht, einige nicht einmal unsere Nachbarn. Sie kennen nichts außer ihrer winzigen Sphäre und dem, was man von ihnen erwartet.«
Vivian sah sie ungläubig an. »Wollen Sie sagen, ich sei exotisch für sie?« Dieser Gedanke schien lächerlich. Andererseits war die Grenze zwischen Monstrosität und Wunder recht schmal, oder?
»Ja, genau das will ich sagen. Bisher haben sie weder eine Frau gesehen, die Hosen trug, noch eine, die über die Mittel verfügt, allein zu reisen. Und ganz gewiss ist ihnen noch keine Frau von Ihrer Stärke und Ihren Fähigkeiten begegnet, die zugleich so liebreizend und feminin ist. Mit anderen Worten: Sie sind gewissermaßen eine Neuheit.«
Liebreizend? Feminin? Sie? »Aber warum sagen sie nichts?«
Ihre Gastgeberin sah sie an, als wäre der Grund offensichtlich. »Sie wurden gelehrt, nicht mit Höhergestellten zu reden, sofern diese sie nicht zuerst ansprechen.«
»Ich bin doch nicht höhergestellt!«, erwiderte Vivian energischer als beabsichtigt. »Ich wurde auf recht ähnliche Weise erzogen wie diese Frauen, und ich betrachte mich gewiss nicht als ihnen in irgendeiner Form überlegen.«
Ihre Worte wurden mit einem umwerfend charmanten Lächeln quittiert, das Vivian vorübergehend sprachlos machte. »Dann werde ich den Mädchen sagen, dass es ihnen freisteht, sich mit Ihnen zu unterhalten. Desgleichen sollten Sie keine Scheu haben, sie anzusprechen, wann immer Sie es wünschen.«
Ja, das würde sie. Sie würde ihnen allen zeigen, dass sie weder ein Snob noch eine »Neuheit« war. Möglicherweise fand sie unter ihnen sogar ein paar neue Freundinnen.
Nein, sie sollte sich mit niemandem anfreunden. Freundschaften machten es schwerer, von hier fortzugehen, ihre Pflicht zu erfüllen. Überdies wusste sie gar nicht, wie man sich mit anderen anfreundete. Sie hatte es ja noch nie gemacht.
Temple kam dem, was sie unter Freundschaft verstand, am nächsten, und das war an sich schon verrückt.
»Könnte ich mich vielleicht in irgendeiner Weise nützlich machen, ich meine in der Schule?« Vivian hasste es, tatenlos herumzusitzen. Und eine Beschäftigung würde sie von Temple fernhalten, was ihr die Chance gäbe, klarer zu denken. Außerdem könnte sie einige der Mitarbeiter befragen, sich umhören und Informationen für Rupert auftun.
Zunächst jedoch müsste sie einen Weg finden, wie sie Rupert Nachrichten übermitteln konnte.
Miss Cooper-Brown war offensichtlich überrascht und entzückt gleichermaßen. »Verstehen Sie sich zufällig auf die Kunst des Faustkampfes?«
Vivian lachte. Sie hatte mit allen erdenklichen Fragen gerechnet, nicht aber mit dieser. »Ja, zufällig.« Sie kannte die Queensborough-Regeln und hatte sowohl auf faire als auch auf weniger faire Weise gekämpft. Darüber hinaus war sie mit einigen orientalischen Kampfstilen vertraut.
»Ah, wunderbar!« Miss Cooper-Brown klatschte in die Hände, während Vivian ihr Schinkensandwich aufaß. »Würden Sie in Betracht ziehen, unsere Damen in Selbstverteidigung zu unterweisen?«
Vivian fragte nicht, warum, denn ihr war wohlbekannt, gegen was eine Frau sich verteidigen können sollte.
»Ich würde.«
Diesmal war es ihre Hand, nicht ihr Knie, das ihre Gastgeberin sachte tätschelte. »Hervorragend! Ach, Miss Vivian, ich bin so überaus froh, dass Sie zu uns gekommen sind!«
Es mochte daran liegen, dass Vivian einen solchen Überschwang nicht kannte,
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