Ewige Versuchung - 5
keine Liebe!
Kapitel 12
A ls Vivian am Morgen erwachte, stand Shannon vor ihrem Bett, deren Gesicht strahlte wie die Sonne, die an einem verhangenen
Tag durch die Wolken linste.
»Mr. Temple hat die hier draußen vor deiner Tür abgelegt«, erzählte sie und hielt mehrere Pakete hoch. »Und er sagt, ich soll dir den Schlüssel zu deinem Zimmer geben.«
Blinzelnd setzte Vivian sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Seit sie das Schloss aufgebrochen hatte, blockierte Temple es stets, damit sie es nicht wieder tun konnte. Sie vermutete, dass er dabei weniger das Einsperren an sich im Sinn hatte. Vielmehr wollte er auf diese Weise demonstrieren, dass sein Wille stärker war als ihrer.
»Den Schlüssel? Wirklich?« Sie klang wie eine Idiotin, aber sie hatte schlecht geschlafen, und ihr Verstand arbeitete nicht ganz so, wie er sollte.
Shannon überreichte ihr den schmalen Messingschlüssel. Verwundert betrachtete Vivian das glänzende Metall in ihrer Hand. Nicht bloß ließ er sie heraus; er gab ihr überdies die Möglichkeit, ihn auszusperren. Wenn sie wollte, könnte sie eine ganze Menge in diese Geste hineinlesen, was sie lieber bleiben ließ. Und er hatte ihr Kleidung gebracht. Warum? Wollte er sie beschwichtigen? Sie ablenken? Oder kam das einer Art Entschuldigung gleich? Falls ja, fiel sie nicht sonderlich groß aus, war jedoch verflucht wirkungsvoll.
»Ich habe dir Waschwasser gebracht«, unterbrach Shannon Vivians Gedanken, die eine Porzellanschale auf den Waschtisch stellte. »Und ich dachte, du möchtest vielleicht unten bei uns frühstücken.«
Shannons hoffnungsvoller Gesichtsausdruck machte jeden Gedanken an eine höfliche Absage zunichte. Zudem würde sie um diese Zeit kaum Temple über den Weg laufen. Also sprach nichts dagegen, eine unbeschwerte Zeit mit ihren neuen Freundinnen zu genießen.
»Ja, das würde ich gern«, antwortete sie. »Ich komme zu euch, sobald ich angekleidet bin.«
Als Shannon gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, öffnete Vivian die Pakete. Temple hatte ihr Kleidung gekauft, hübsche neue Sachen, von denen einige sehr zart und wunderschön waren. Bei der Vorstellung, wie er so intime Kleidungsstücke für sie auswählte, wurden ihre Wangen heiß – nicht vor Scham allerdings. Eher erhitzte der Gedanke sie, dass er sich dabei vorgestellt hatte, wie sie in der feinen Spitze und Seide aussähe.
Sie stieg aus dem Bett und wusch sich hastig. Inzwischen konnte sie ohne größere Schmerzen stehen, und nicht einmal das Gehen war mehr besonders schmerzhaft. Die Selbstheilungskräfte ihres Körpers waren ein wahres Gottesgeschenk, vor allem unter den gegebenen Umständen. Sogar ihre Hand sah bereits viel besser aus. Vivian trug Salbe und einen frischen Verband auf, bevor sie in die neue Unterwäsche schlüpfte, die Temple ihr mitgebracht hatte. Ihr Stolz forderte, dass sie die Sachen zurückgab, doch ihre weibliche Eitelkeit war dagegen und gewann.
Ach, die Sachen fühlten sich herrlich an! Es folgten ein sauberes Hemd und eine neue Hose. Er hatte die Größen sehr gut gewählt. Warum überraschte sie das nicht?
Sie brauchte keine Krücken, um nach unten zu gehen, obwohl es noch ein bisschen beschwerlich war. Ihr Fuß war steif und erlaubte ihr keine schnellen Bewegungen. Selbst die langsamen waren ungeschickt und anstrengend. Doch sie gelangte ins Erdgeschoss, ohne hinzufallen oder ins Schwitzen zu kommen, worüber sie sich schon freute. Von dort machte sie sich auf den Weg in die Küche.
Als sie Schritte hörte, blieb sie stehen und hob den Kopf. Sie sah den Fremden, ehe er sie bemerkte.
Von ihrer Warte hinter einer Ecke beobachtete sie, wie der Mann lässig auf die Hintertreppe zuschlenderte, die in die Küche führte. Wer war das? Er war recht jung, ungefähr in ihrem Alter, hatte breite Schultern und dunkles welliges Haar. Sein Gesicht war sehr hübsch, aber »sehr hübsch« bedeutete nicht »ungefährlich«. Löwen waren ebenfalls hübsch.
Und dieser Löwe war unterwegs zu jenem Raum, in dem all ihre neuen Freundinnen arbeiteten und nichts davon ahnten, dass er sich näherte. Temple schlief. Auch wenn er wach wäre, schien die Sonne in diesem Teil des Gebäudes zu hell durch die Fenster hinein, als dass er herkommen könnte. Folglich war Vivian gefordert, das Haus zu schützen.
Zwar konnte sie noch nicht laufen oder eine größere Distanz gehen, aber sie könnte sich relativ leicht von hinten an den Mann heranschleichen, ihn niederringen
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