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Ewigkeit

Ewigkeit

Titel: Ewigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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Akzent sprach, der nichts über ihre wahre Herkunft verriet. Bei ihrer ersten Begegnung hätte Floyd sie niemals für eine Deutsche gehalten. Die Enthüllung dieses Geheimnisses war die erste von vielen Intimitäten gewesen. Jede hatte den kleinen stechenden Kitzel des gegenseitigen Vertrauens verstärkt.
    »Du kannst jetzt hereinkommen, Floyd«, rief sie ihm aus dem Zimmer zu.
    Als er die Tür öffnete, kam ihm Sophie mit einem Tablett in den Händen entgegen. Er trat zur Seite, um sie vorbeizulassen, dann ging er in das Schlafzimmer, in dem das Licht und die Geräusche gedämpft waren. An den Wänden waren blasse Rechtecke und Ovale zu erkennen, wo Gemälde, Fotos und Spiegel abgehängt worden waren. Marguerites Bett war ordentlich gemacht, vermutlich zur Vorbereitung auf den Arztbesuch, und die alte Dame saß fast aufrecht, gestützt von drei dicken Kissen. Sie trug ein hochgeschlossenes geblümtes Nachthemd mit langen Ärmeln, das noch aus dem 19. Jahrhundert zu stammen schien. Ihr weißes Haar war aus der Stirn zurückgekämmt, und ihre Wangen mit etwas Rouge betupft worden. Floyd konnte Marguerites Gesicht im gedämpften Licht gerade noch erkennen, aber was er sah, war eine dünne, flüchtige Skizze der Frau, die er einmal gekannt hatte. Er dachte, es wäre einfacher gewesen, wenn überhaupt keine Ähnlichkeit bestanden hätte, aber sie war eindeutig wiederzuerkennen, und das machte es für ihn umso schwerer.
    »Das ist Wendell«, sagte Greta leise. »Du erinnerst dich doch an Wendell, Tante?«
    Floyd zeigte sich und hielt seinen Filzhut wie eine Opfergabe mit beiden Händen.
    »Natürlich erinnere ich mich an ihn«, sagte Marguerite. Ihre Augen waren überraschend hell und klar. »Wie geht es Ihnen, Floyd? Wir haben Sie eigentlich immer nur Floyd und nicht Wendell genannt, nicht wahr?«
    »Mir … geht es prima«, sagte er und scharrte mit den Füßen. »Und Ihnen?«
    »Im Augenblick recht gut.« Ihre Stimme war ein leises Krächzen. Er musste sich konzentrieren, um ihre Worte zu verstehen. »Aber die Nächte sind eine Qual. Ich hätte nie gedacht, dass der Schlaf mir so viel Energie rauben könnte. Ich bin mir nicht sicher, wie viel ich noch übrig habe.«
    »Sie sind eine kräftige Frau, Madame«, sagte er. »Sie haben bestimmt viel mehr Energie, als Sie glauben.«
    Sie legte eine dürre, vogelgleiche Hand auf die andere und platzierte sie auf dem Bauch. Über ihren Schoß war wie ein Schal die Zeitung gebreitet, die Seite mit den Nachrichten aus Paris aufgeschlagen. »Ich hätte gerne das Gefühl, dass es wirklich so ist.«
    Sie weiß Bescheid, dachte Floyd. Sie mochte schwach sein und nicht immer sofort begreifen, was um sie herum vor sich ging, aber sie wusste sehr genau, dass sie krank war und dass diese Krankheit sie nie wieder aus diesem Zimmer hinauslassen würde.
    »Wie sieht es draußen aus, Floyd?«, fragte Marguerite. »Ich habe die ganze Nacht den Regen gehört.«
    »Es hat ein wenig aufgeklart«, sagte er. »Die Sonne kommt gelegentlich heraus und …« Plötzlich musste er schlucken. Warum hatte er auf diesem Besuch bestanden? Er hatte Marguerite nichts zu sagen, was sie nicht schon hundertmal von anderen Besuchern gehört haben musste, die es gut mit ihr meinten. Beschämt erkannte er, dass er nicht zu ihr gekommen war, um dafür zu sorgen, dass es ihr besser ging, sondern er wollte, dass es ihm besser ging. Er würde vor ihr stehen und mit keinem einzigen Wort auf die Tatsache anspielen, dass sie unheilbar krank war, als würde ein Elefant im Zimmer stehen, dessen Anwesenheit niemand zur Kenntnis zu nehmen wagte. »Nun«, sagte er, verzweifelt nach Worten suchend, »es ist sehr schön, wenn die Sonne herauskommt. Die ganze Stadt sieht wie ein Gemälde aus.«
    »Die Farben müssen wunderbar sein. Ich habe den Frühling immer geliebt. Er ist fast so atemberaubend wie der Herbst.«
    »Ich glaube, es gibt keine Jahreszeit, zu der ich diese Stadt nicht liebe«, sagte Floyd. »Außer vielleicht im Januar.«
    »Greta liest mir jeden Tag die Zeitung vor«, sagte Marguerite und klopfte auf die Seiten, die vor ihr lagen. »Sie möchte mir nur die guten Nachrichten zumuten, aber ich will sie alle hören, die schlimmen genauso wie die schönen. Ich kann nicht behaupten, dass ich junge Menschen wie Sie beneide.«
    Floyd lächelte und versuchte sich daran zu erinnern, wann ihn jemand zum letzten Mal als jung bezeichnet hatte. »So schlimm kommt es mir gar nicht vor«, sagte er.
    »Ich vermute, Sie waren in

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