Ex
sollten wir die Polizei einschalten.«
»Nein, das ist kein Fall für die Polizei«, erwiderte Sam, nicht energisch, eher gequält, als wäre eine solche Vorgehensweise reine Zeitverschwendung. »Tatsächlich ist die Polizei bereits eingeschaltet. In gewisser Hinsicht jedenfalls.«
»In welcher?« schleuderte Cazaubon zurück. Seine Stimme verhärtete sich vor Beunruhigung.
»Heute sind zwei Menschen gestorben.«
Als Sam das Entsetzen in Cazaubons Augen sah, fügte er rasch hinzu: »Ihre Frau – oder diese andere, die sich als Ihre Frau ausgibt – hatte nicht direkt damit zu tun. Sie war nicht einmal anwesend, als es passierte.«
»Warum sind Sie dann hier?«
Towne zögerte. Wie sollte er anfangen, ohne daß man ihn für geistesgestört hielt? Seine Sorge um Joanna wie auch sein tiefes Mißtrauen diesem Mann gegenüber ließen sich nicht in ein paar knappen, verständlichen Sätzen ausdrücken. »Es tut mir leid«, meinte er schließlich. »Ohne die Anwesenheit Ihrer Frau ist das sehr schwer zu erklären.«
Cazaubon runzelte die Stirn. »Hören Sie, Dr. Towne, meine Frau ist ein intelligenter, selbständiger Mensch. Aber ich glaube nicht, daß ich es zulassen kann, daß Sie sie mit irgendeiner verrückten Geschichte über eine wildfremde Person, die unter ihrem Namen herumläuft, in Aufregung versetzen – schon gar nicht zum jetzigen Zeitpunkt.«
Er hielt inne und schien zu überlegen, ob er seine letzte Bemerkung näher ausführen sollte. Sein Tonfall ließ darauf schließen, daß sie gerade in einer besonders labilen Verfassung war. Vielleicht war sie krank, vielleicht gab es ein Problem in ihrem Leben, oder vielleicht war sie einfach schwanger. Wie auch immer, Cazaubon ließ keinen Zweifel daran, daß er sie vor jeder Belästigung und jedem unnötigen Kummer schützen würde.
»Mir ist klar, wie das alles für Sie klingen muß«, setzte Sam matt hinzu.
»Ach ja? Ich weiß nicht einmal, wer Sie sind, ganz abgesehen davon, was Sie mir eigentlich sagen wollen.«
»Sie können ja bei der Universität anrufen.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Sam glaubte, daß Cazaubon tatsächlich dort anrufen würde, wenn nicht jetzt, dann später. Er hoffte es zumindest.
»Hören Sie«, Sam schlug den versöhnlichen Ton eines vernünftigen Menschen an, »möglicherweise können wir diese Angelegenheit klären, ohne Ihre Frau in Mitleidenschaft zu ziehen. Haben Sie vielleicht zufällig ein Foto von ihr, das Sie mir zeigen könnten?«
»Selbstverständlich. Obwohl ich nicht verstehe, was das beweisen soll – Sie werden nur feststellen, daß die betreffende Frau eindeutig nicht meine Gattin ist.«
»Das wäre zumindest ein erster Schritt.«
Cazaubon ging durch den Raum zu einem reich verzierten chinesischen Wandschränkchen, doch als er die Schublade herauszog, hielt er inne. Sie hatten gerade beide ein Geräusch in der Diele gehört.
Als die Frau eintrat, stand Sam unwillkürlich auf, weniger aus Höflichkeit, sondern weil er vor Nervosität und Anspannung nicht mehr stillsitzen konnte. Cazaubon war ihr bereits entgegengegangen und hatte sie liebevoll auf die Wange geküßt. Offenbar war er froh und erleichtert, sie zu sehen.
»Schatz«, sagte er, »das ist Dr. Sam Towne von der Manhattan University. Er erzählt mir gerade eine höchst sonderbare Geschichte…«
Doch da unterbrach er sich, weil Sam hörbar nach Luft schnappte. Sowohl Cazaubon wie auch die Frau, die gerade hereingekommen war, starrten auf den Mann, der mit offenem Mund dastand und die Frau aus blaßblauen Augen entgeistert ansah. Er war kreidebleich und schien einer Ohnmacht nahe.
Damit hatte Sam Towne absolut nicht gerechnet.
Etwas Unmögliches war geschehen.
Ein Jahr zuvor
KAPITEL 1 Eleanor (Ellie) Ray war noch nicht ganz sechzig, obwohl die meisten Menschen sie mindestens zehn Jahre älter geschätzt hätten. Sie gab sich Mühe, diesen Eindruck zu erwecken, denn eine großmütterliche Ausstrahlung war in Ellies Beruf bares Geld wert.
Wenn man die unscheinbare, kaum einen Meter fünfzig große und untersetzte Frau heute sah, war es schwer, jene Ellie in ihr wiederzuerkennen, die sie einst gewesen war – die glamouröse, mit hohen Pumps und Netzstrümpfen bekleidete, federngeschmückte und paillettenglitzernde Hälfte von »Wanda und Ray«, einer Unterhaltungs- und Zaubershow, mit der sie sich zwanzig endlose, schwere Tourneejahre lang gerade eben so über Wasser gehalten hatte. Sie war »Wanda« und »Ray« war Ehemann Murray
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