Ex
Ray. Als sie sich kennenlernten, war sie Tänzerin, allerdings zu klein geraten für das Ensemble und nicht gut genug für einen Soloauftritt. Mit einem anderen Mädchen, das über eins achtzig groß war, arbeitete sie ein paar Nummern aus, mit denen sie durch die Provinz tingelten, doch ihre ohnehin raren Engagements wurden immer seltener, so daß Ellie schon fast ihren Beruf an den Nagel hängen wollte, bevor sie Murray begegnete.
Er war nur ein, zwei Jahre älter als sie und schon ein anerkannter Profi, wenn auch kein Star. Ein solcher würde er wohl auch nie werden. Er war ein lustig aussehender kleiner Typ, nicht viel größer als sie, aber irgendwie süß. Sie traten in jener Saison ein paarmal im gleichen Programm auf, und er fing an, ihr hinter der Bühne einige Zaubertricks zu zeigen, um sie damit ins Bett zu kriegen. Sie wußte genau, worauf er aus war, und hatte sich bereits entschieden ihm entgegenzukommen. Damals dachte man sich nicht viel dabei, und Sex war ein guter Zeitvertreib nach der Show oder zwischen den Engagements.
Doch die Zauberei war etwas Neues und – wie sie zu ihrer eigenen Überraschung feststellte – höchst Faszinierendes für sie. Ellie fing an, einige der Tricks zu üben, die er ihr gezeigt hatte. Sie habe Talent, meinte Murray. Alles, was sie brauche, sei Fleiß – und den wollte sie gerne aufbringen. Es war eine letzte Chance für Ellie, nicht als Serviererin zu enden. Nach dem Ende ihrer Tänzerinnenkarriere wäre ihr sonst wohl nichts anderes übriggeblieben.
Sie heirateten, drei Monate nachdem sie sich kennengelernt hatten, doch erst ein Jahr später traten sie auch zusammen auf. Es dauerte seine Zeit, eine Nummer auszuarbeiten, und Murray hatte recht mit seiner Bemerkung über den Fleiß. Gerade die kleinen Kunststückchen, die beiläufigen Tricks, waren wirklich schwer zu lernen. Die großen Zauberstücke hingegen waren überraschend einfach und hauptsächlich technische Spielereien. Doch das war nicht ihr Stil – vor allem weil sie nicht genug Geld hatten, die erforderlichen Apparate zu kaufen und zu transportieren. Also blieb nur der steinige Weg: mit genauer Zeitabstimmung, Ablenkungsblabla, gezielter Irreführung und körperlicher Geschicklichkeit. Als Ellie neben Murray auf die Bühne trat, waren ihre kleinen Hände mit den kurzen Fingern so kräftig, daß nur wenige Männer hätten mithalten können. Sie beherrschte Kartentricks, konnte Chiffonschals verschwinden lassen und gezinkte Dollarnoten austauschen – immer mit einem Lächeln auf den Lippen, selbst wenn der Schmerz ihr in die Ellbogen und manchmal bis hinauf in die Schultern schoß. Das wird sich schon noch geben, tröstete sie sich. Übung macht den Meister. Wenn ich es erst richtig gut kann, wird es nicht mehr so weh tun.
Ellie lehnte sich zurück und betrachtete ihre Hände, die jetzt runzlig und mit Leberflecken übersät waren. Sie drehte die Handflächen nach oben und krümmte die Finger wie Krallen. Die Kraft war noch da. Ihrem eisernen Griff widerstand weder ein Schraubglas noch eine Flasche. Bei der Erinnerung an den Gewichtheber, der damals in Atlantic City frech geworden war, bis sie ihn an den Eiern gepackt hatte, mußte sie lächeln. Er war niemals wieder der alte gewesen.
Als das Gemurmel lauter wurde, erwachte sie aus ihrem Tagtraum und sah auf. Durch die rechteckige Glasscheibe – von der anderen Seite aus nur ein Spiegelornament auf einer der beiden Wände links und rechts der Bühne – konnte sie erkennen, daß der Saal schon fast voll war. Sie blickte auf ihre Armbanduhr, eine auffallend billige mit Plastikarmband, die sie immer bei der Arbeit trug. Die Cartier-Uhr, die ihr Murray zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte, verwahrte sie sorgsam in einer Schublade zu Hause. Es blieb ihr noch Zeit genug damit anzugeben, wenn sie in ein paar Monaten hier aufhören und die reichen Früchte der letzten Jahre genießen würden.
Über den Verkauf der Immobilie wurden bereits diskrete Verhandlungen geführt, und es sah ganz so aus, als könnten sie ihren Lebensabend in allem Komfort genießen. Ellie war noch nie in Europa gewesen und träumte davon, Paris, Rom und London zu sehen. Und im Winter lockte alljährlich eine Kreuzfahrt in der Karibik. Dazu natürlich, als Krönung des Ganzen, ein Stadthaus in Manhattan, mit dem Ellie sich einen Lebenstraum erfüllen würde. Das Mädchen aus New Jersey würde ihre Tage als Matrone an der Upper East Side beschließen und in einem Haus
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