Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Organisationstalent die Routine einer langen Journalistenlaufbahn. Er war nach wie vor repräsentativ und hielt stolze, zuversichtliche Reden. Wer aber genauer hinsah, merkte rasch, daß er in seinem Innern getroffen war. An Sepp strich er scheu und demütig vorbei. Manchmal, auch in Gegenwart anderer, sank er plötzlich in sich zusammen. Keiner dann hätte in dem alten, ausgeleerten Mann den stolzen Herrn von dem Porträt des Malers Max Liebermann wiedererkannt.
Dazu kam, daß die »P. N.« nicht, wie man gehofft hatte, kapitulierten. Vielmehr hatten Gingold und sein Hermann Fisch einen Trick gefunden, der ihnen weiterhalf. Sie forderten angesehene englische, amerikanische, französische Schriftsteller auf, für die »P. N.« zu schreiben. Diese Herren wußten nichts von den inneren Verhältnissen der deutschen Emigrantenpresse, und da Gingold sich’s abgerungen hatte, fette Honorare zu bieten, sahen sie keinen Grund, ihm ihre Mitarbeit zu verweigern. Der Leserkreis der Emigration war nicht groß, und die scharfe Konkurrenz der beiden Zeitungen drückte die Auflage.
Die Redakteure der »P. D. P.« arbeiteten weiter, zornig, resigniert, verbissen. Immer wieder sagten sie sich vor: wir müssen durchkommen, wir werden durchkommen. Allmählich aber begann ihre Zuversicht Maske zu werden, und dahinter lag Verzagtheit, graue Verzweiflung.
Da, an einem Septembernachmittag, gab die Amtliche Deutsche Nachrichtenagentur die Meldung durch, die deutsche Regierung werde den Journalisten Friedrich Benjamin an die Schweizer Behörden ausliefern.
Die Redaktion der »P. D. P.« war nicht mehr kahl. Keiner hatte mehr recht an den Sieg geglaubt, nun kam er so jäh, daß er alle aus ihren Fugen hob und beschwingte. Selbst Heilbrun war auf einmal nicht mehr alt, sondern wieder der große Herr aus seiner besten Zeit, das lebendig gewordene Porträt des Malers Liebermann.
Sepp Trautwein, als er die Kunde vernahm, rührte sich eine Weile nicht von der Stelle. »Frei, er ist frei«, sagte er vor sich hin. »Frei, frei«, wiederholte er immer wieder. Dann erst, nach einigen Sekunden, begann er zu strahlen, jetzt aber über das ganze knochige Gesicht, die tiefliegenden Augen unter den mächtigen, ergrauten Brauen glänzten, er war geradezu schön. Er lief durch den Redaktionsraum, er schnalzte mit der Zunge, mit einer täppischen, törichten Bewegung faßte er den seiner Kollegen bei der Schulter, jenen, sagte: »Frei, frei.« Er umarmte Erna Redlich, er packte den langen, magern Peter Dülken,der selber ganz verrückt war vor Freude, und sagte zu ihm, offenbar ganz sinnlos: »Na, Pitt, wer hat nun recht gehabt? Hab ich’s nicht immer gesagt?« Auch daß er mit Heilbrun böse war, hatte er vergessen, er schüttelte ihm gewaltig die Hand, und: »Na, was sagen Sie jetzt?« fragte er ihn übermütig, und: »Warum sagen Sie denn nicht Sepp zu mir, Sie Idiot?« Er sang: »Der schwache Mann stirbt, und der starke Mann ficht«, sagte wieder: »Frei, frei«, und war wie besoffen.
Pitt und Heilbrun bestürmten ihn, er müsse den Begrüßungsartikel für Friedrich Benjamin schreiben, kein anderer als er, das sei heute sein Tag und sein Sieg. Aber er weigerte sich. »Das müßt schon ihr machen«, sagte er, »ich kann heute nicht, ich bin ganz besoffen.« – »Das sind wir ja alle«, lachte Peter Dülken und warf sich das braune, lange Haar aus der Stirn. Aber: »Frei, frei«, sagte Sepp und ging.
Taumelig ging er, selig, strahlend durch den milden Septembertag. Er setzte sich auf den Perron eines Cafés. Es tat wohl, von so vielen wimmelnden, geschäftigen Menschen umgeben zu sein, sie waren, ob sie es wollten oder nicht, die erfreuliche Staffage seines groß beflaggten Innern. Er trank ein Bock und noch eines und ein drittes, und er kaufte sich eine Zeitung und noch eine und eine dritte, und überall stand geschrieben, die deutsche Regierung habe sich entschlossen, den Journalisten Friedrich Benjamin an die Schweizer Behörden auszuliefern. Sepp Trautwein war ein Mensch, der Gutes zu genießen wußte, und er hatte neben manchem Bösen auch mancherlei Gutes in seinem Leben erfahren: aber niemals, niemals war er so glücklich gewesen wie heute. Und wären alle seine Jahre grau und öde gewesen und er hätte nur diese eine Stunde gehabt hier auf dem Perron des Pariser Cafés mit den Zeitungen und der frohen Botschaft und mit den drei Bock und mit dem großen, die Brust sprengenden Gefühl: Frei, frei, sein Leben wäre glücklich gewesen.
Sein
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