Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Glaube hatte ihn also nicht betrogen. Gerechtigkeit, Vernunft, das sind keine leeren Worte, es gibt das wirklich in der Welt, und der alte Ringseis hat recht, man muß nur wartenkönnen. Und Anna hat den Löffel weggeworfen, arme Anna, ach, warum hat er ihr das nicht beibringen können, das Warten und die Zuversicht. Wenigstens kann er es dem alten Ringseis noch sagen, daß Friedrich Benjamin frei ist.
Vorläufig sagte er es dem Kellner. »Er ist frei«, sagte er ihm. »Haben Sie es gelesen, mein Herr? Er ist frei, und ich hab es immer gewußt.« Und da der Mann ihn verwundert anstarrte, gab er ihm ein hohes Trinkgeld.
Dann lief er weiter durch den schönen Septembertag, und obwohl er nur drei kleine Bock getrunken hatte, fühlte er sich wie damals in der Nacht, als er von dem ersten freundschaftlichen Gespräch mit Erna Redlich kam und durch die leeren Straßen und Plätze der Stadt Paris lief. Er hat recht gehabt, und er wird auch weiter recht haben. »Der Tag wird kommen«, krähte er vor sich hin, wie damals. Er wird an den Quais der Isar entlanggehen, wird die Frauentürme sehen, Weißwürste essen, Märzenbier trinken, er wird Richard Strauss auf die Schulter klopfen: »Na, Herr Nachbar, Sie hätten auch gescheiter sein können«, und wenn ihn der Riemann verlegen angrinst, dann wird er einfach zurückgrinsen und im übrigen vornehm schweigen. Eleusetai, er wird kommen, das hat sich auch jetzt wieder einmal gezeigt, oder, volkstümlicher ausgedrückt: Gefurzt, Herr Hitler, ist noch lange nicht geschissen. Wir haben zwar einiges abbekommen in der Zwischenzeit, aber wir haben es nicht umsonst durchgemacht, auch das wird sich jetzt zeigen. Und vor allem wird sich zeigen, daß »Der Wartesaal« nicht umsonst gewartet hat.
Jetzt erst, und mit so hellem Glanz, daß er beinah erschrak, drang ihm voll ins Bewußtsein, was Friedrich Benjamins Freilassung für ihn selber bedeutete. Mit der Freiheit des andern hat er seine eigene Freiheit erkämpft. Er darf zurück zu seiner Musik, und wie ganz anders kommt er zurück, reifer, weise und doch noch jung. Nichts von dem Spiritus ist verflogen, sein Wein ist gut und alt geworden, und die rechte Flasche hat er dazu gekriegt. Was alles hat er gelernt und begriffen in diesen zwei Jahren.
Einmal war er, längst erwachsen, wieder ins Wilhelmsgymnasium gekommen, in das Schulzimmer, in dem er als zehnjähriger Bub gesessen war, und da standen die Bänke von damals, die gleichen Bänke, aber ach, wie waren sie klein und winzig geworden. Und so wie der Sepp von damals auf diese Bänke geschaut hatte und auf den Sepp, der in einer solchen Bank gesessen war, so schaute der Sepp von heute zurück auf den Sepp von vor zwei Jahren und auf seine Hoffnungen, Ängste und Entwürfe.
Er stand am Quai. Er mußte sich abkehren, dem Wasser zu, er schämte sich, die Freude und den großen Glanz sehen zu lassen, der jetzt sicher über seinem Gesicht lag; denn alle Menschen mußten neidisch werden, wenn sie ihn so sahen. Er schaute auf den Fluß Seine, der dahinfloß, frisch, freundlich, grün, und er hätte nicht glücklicher sein können, wenn es der Fluß Isar gewesen wäre. Er darf zurück zu seiner Musik. Er darf Musik machen, mit reinem Gewissen, und braucht sich nicht mehr den Kopf um andere zu zerbrechen. Er hat sein Teil getan.
Frei, frei. Er spürte es von sich abfallen, spürte geradezu leibhaft, wie ihm die Schultern leicht wurden, die Brust, der ganze Körper. Das Gespenst Fritzchens war zerplatzt, verweht die kleine, geisterhafte Musik, die er immer um ihn herum gehört hatte. Er war frei, frei. Er atmete tief, dehnte sich, stieß die verdorbene Luft aus sich heraus und atmete ein die neue, reine, frische.
14
Gewillt, ein Bösewicht zu werden
»Wenn es Ihnen recht ist, Corinne, dann brechen wir auf«, sagte Spitzi. Man hatte in einem Gartenrestaurant der Umgebung zu Abend gegessen, im Freien, man saß angenehm und führte, bei unaufdringlicher Musik, eine lässige Unterhaltung.
Madame Didier, verwundert über die unhöfliche Plötzlichkeit seiner Aufforderung, fragte zurück: »Was stört Sie?« – »Es ist nur«, erwiderte, die Dürftigkeit dieser Ausrede kaum verbergend, Spitzi, »weil es anfängt kalt zu werden, und wir haben den Wagen offen. Vor allem aber«, gab er sich einen Ruck, »freu ich mich darauf, mit Ihnen zu Hause zu sein«, und er beschaute sie mit frecher Liebenswürdigkeit.
Man brach auf. Er war den ganzen Abend zerstreut gewesen und blieb es auch auf der
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