Existenz
Wollte oder brauchte keinen Schutz.
Und aus dem Wasser wurde ein Liebhaber. Der ihren Körper erkundete, jede Rundung, jede Kurve, über Beine und Arme glitt, über Hüften, Taille und Schenkel. Eifrige Hände streichelten sie bewundernd, tasteten mit gieriger Lust, drückten immer fester zu, in perfekter Synchronisation mit ihrem eigenen Verlangen. Ein Mund, der spielerisch knabberte und biss, der sie mit arglosen Küssen bedeckte … Wesley …
Aber Mund, Hände und Küsse veränderten und verwandelten sich, wurden besser. Sie waren noch immer weich und geschmeidig, noch immer männlich-fordernd, aber es gab jetzt einen angenehmen Beigeschmack von Polymer und Eisen . Stolz und stark, maskulin und würdig … und modifiziert, gewachsen, neu gestaltet … Gavin …
Tor kämpfte gegen das Erwachen an, doch ihr Traum verblasste, als der Kälteschlaf-Monitor grausam »Genug!« sagte. Zehn Tage Schlaf, das war das Limit, gefolgt von zwei wachen Tagen, an denen sie sich um das Schiff kümmerte. An denen sie aß, sich streckte und Übungen machte. Sich um ein richtiges Leben kümmerte.
Wie üblich verbrachte Tor die ersten wachen Momente damit, ein Bild von sich selbst zu gewinnen und sich daran zu gewöhnen. Zu ihrer physischen Existenz gehörten Gehäuse aus Kunststoff und Metall, ohne die sie sterben würde.
Werden sie mir neue Modifikationen anbieten, wenn ich heimkehre? Wird der Tag kommen, an dem ich wieder laufen oder schwimmen, richtig duschen und mir einen Liebhaber nehmen kann?
Sie hatte beschlossen, ihre alte innere Chemie zu behalten, und dazu gehörte auch eine Libido, die sich dann und wann in ihren Träumen bemerkbar machte. Das alles wieder mit echter Haut und echtem Fleisch zu verbinden … Nun, man konnte immer hoffen.
Bei Gavin ist das Upgrade leichter , dachte sie und erinnerte sich vage daran, wie er ihr im Traum erschienen war. Als eine Art Halbgott. Oder nur als Mann, bei dem »viele gute Teile« verbessert waren.
»Ach, verdammt«, murmelte Tor. Sie hätte sich gern die Nase gerieben oder das Gesicht in kaltes Wasser getaucht. Stattdessen seufzte sie, löste die Kälteschlaf-Nabelschnur, flog los und machte sich an die Arbeit.
Stunden später, als alle Inspektionen erledigt waren und sie sich vergewissert hatte, dass die Bordsysteme einwandfrei funktionierten, ruhte sich Tor im Kontrollraum aus und schwebte halb in der schwachen Pseudoschwerkraft, vom brummenden Triebwerk der Warren Kimbel geschaffen.
Tors Herz schlug unter ihren Rippen, wie seit Anbeginn ihrer Existenz. Der sanfte, vom Antrieb ausgeübte Druck schob ihren inneren Körper gegen das Kerametall-Gehäuse, das ihn umgab. Tors Schildkrötenpanzer, seit Flammen die Spirit of Chula Vista verschlungen hatten.
Schalen innerhalb von Schalen. Und jenseits der Haut des Schiffes gab es weitere Schichten.
Plato und seinesgleichen stellten sich einen Kosmos vor, der aus perfekten kristallenen Kreisen bestand, auf denen Planeten und die Sterne unterwegs waren. Viel leicht eine angenehmere Vorstellung als unser modernes Konzept: eine gewaltige Leere, viele Milliarden Lichtjahre tief.
Die Sensoren des Schiffes erweiterten Tors Wahrnehmung, und sie fühlte sich umgeben von Sternhaufen und Nebeln, als wären die fernen Sonnen nicht mehr als phosphoreszierendes Plankton in einem großen Meer. Es stimmte sie nachdenklich.
Was ist hier vor so langer Zeit geschehen?
Und was geschieht dort draußen noch immer, jetzt?
Sie fühlte sich wie verfolgt von der Geschichte, die kleine Hände in den Fels der Rosette-Wand gemeißelt hatten. Einige Teile davon schienen klar zu sein, doch der Kern blieb rätselhaft. Tor erinnerte sich an die Szenen, die seltsame, maschinenartige Wesen bei sonderbaren Aktivitäten zeigten. Vielleicht würde es nicht einmal Archäologen oder Smartmobs – biologischen oder kybernetischen – gelingen, die zentralen Teile des Rätsels zu lösen.
Wir sind wie ein Lungenfisch, der an Land kriecht, nachdem andere Lebensformen die Kontinente für sich erobert haben. Wir blinzeln verwundert und blicken über einen Strand, der verwüstet wirkt. Um uns herum liegen die Skelette jener, die vor uns kamen.
Aber diejenigen, die vor uns das Meer verließen … Sie sind nicht alle tot oder verschwunden.
Es gibt Fußspuren im Sand.
Die Wand in den Katakomben des Asteroiden kündete von einer Zeit, als einfache, naive Regeln ihre Bedeutung verloren. Maschinen veränderten sich, entwickelten sich weiter.
Wir werden viel durch die
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