Existenz
wiederholte das seltsame Ritual, das Gerald zum ersten Mal während des feurigen Wiedereintritts der Kapsel erlebt hatte, beim ersten Kontakt.
Ein Kontakt, ja. Aber mit was? Mit wem?
Im Lauf mehrerer Tage zeigten sich größere Tiefen. Hände bildeten das Ende von Armen oder Tentakeln, die nach innen reichten, als wäre das Arte fakt zig Meter tief anstatt nur wenige Dutzend Zentimeter. Dann erschienen Rümpfe oder ganze Körper an den Enden der Arme und kamen näher, blieben aber immer etwas verschwommen, wie durch eine dicke Kugel aus milchigem Glas betrachtet.
Und schließlich kamen Köpfe … manchmal auch Gesichter … ausgestattet mit Augen oder Sinnesorganen, die sich an die transparente Substanz zu drücken schienen, die das Innere des Artefakts von der Außenwelt trennte.
Wenn man all das lange genug beobachtet hatte, begann man sich Dinge einzubilden. Manchmal bekam man das Gefühl, sich in dem Objekt zu befinden, während all die Aliens außerhalb waren und einen wie durch Vergrößerungsgläser beobachteten.
Vielleicht machen sie genau das. Eine Theorie ging davon aus, dass es sich bei dem Artefakt um einen Transmitter handelte, um einen interstellaren Kommunikationsapparat, der eine direkte Verbindung über Lichtjahre hinweg erlaubte, zu Aliens auf einer fremden Welt.
Und andere halten das Ding für eine Fälschung.
Einige der besten Fachleute für Display-Technik – von Hollywood über Bombay bis nach Kinshasa – hatten sich das Objekt angesehen. Viele seiner Verhaltensweisen und Funktionen konnten von bekannter Technik nachgeahmt werden, befanden sie. Aber nicht alle. Einige waren schlichtweg erstaunlich. Insbesondere die Art und Weise, wie dreidimensionale Bilder tief aus dem Innern eines festen, massiven Objekts in eine bestimmte Richtung – oder in alle Richtungen zugleich – ragen konnten. Auf viele Fragen fanden selbst die Spezialisten keine Antworten. Wie spürte das Artefakt nahe Personen oder Gegenstände? Wie entnahm es dem Licht in seiner Nähe Energie? Und doch, all diese Rätsel schützten nicht vor einer Fälschung. Betrüger mit viel Geld und noch mehr Kreativität hatten schon zuvor versucht, der Welt »außerirdische Artefakte« zu präsentieren. Ein Interpol-Team war beauftragt worden, die virtuellen und realen Welten zu durchsuchen und nach einer bestimmten Art von Scherzbold Ausschau zu halten, einem mit viel Fantasie und großzügig bemessenen Ressourcen.
Die Symbole, die aus den Dunstschwaden im Innern des Objekts empor schwebten und sich an die durchsichtige Hülle hefteten, sich wie Insekten wanden und zu entkommen versuchten … Bewiesen sie den außerirdischen Ursprung des Artefakts? Nach dem ersten Gruß waren mehr Worte entstanden, doch ihre Bedeutung blieb unklar und Interpretationen überlassen. Es lag nicht nur an Syntax und Grammatik. Allein die große Anzahl der Symbole war überwältigend. Wenn ein linguistisches System einen Sinn zu ergeben begann, wurde es durch ein anderes abgelöst. Bisher hatte man mindestens fünfzig identifiziert, eine größere Vielfalt als alle menschlichen Sprachen zusammen.
Diese ungeheure Komplexität half dabei, das Beraterkomitee von der Echtheit des Artefakts zu überzeugen. Ein oder zwei sonderbare grammati kalische Systeme mochten gefälscht sein, aber warum sollte sich ein Fälscher die Mühe machen, solche Systeme gleich dutzendweise zu erfinden und sie so vorzuführen, als lägen sie miteinander im Wettstreit? Betrüger wollten Autorität und Selbstvertrauen vermitteln, nicht den Eindruck interner Zerstrittenheit erwecken.
Ja, es deutete alles auf ein echtes Artefakt aus dem Weltraum hin. Ein Botschafter von den Sternen, der eine ganze Menagerie von intelligenten Völkern repräsentierte, ein Durcheinander von Sprachen darbot und ein breites Spektrum eindrucksvoller Planeten zeigte, in bunten Farben und zum Greifen nah, von reinen Wasserwelten bis hin zu globalen Wüsten. In gewisser Weise war die Vielfalt beruhigend. Denn wenn so viele unterschiedliche Völker dort draußen eine Gemeinschaft bildeten, dann gab es für die Menschheit doch nichts zu befürchten, oder?
Gerald stellte fest, dass seine linke Hand näher zu dem Objekt kroch, als würde sie von ihm angezogen oder hätte einen eigenen Willen. Und kurz darauf reagierte das Artefakt. Aus vagen wolkenartigen Mustern wurden etwas deutlichere Strukturen, die sich an der Stelle sammelten, die Geralds Hand am nächsten war. Der Eindruck von Tiefe kehrte zurück.
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