Exit
Einen Monat noch, bis ich meine eigenen Fälle abgeschlossen habe, dann ziehe ich mich in ruhigere Gefilde zurück. In Chuck Jones' Familienangelegenheiten zu wühlen, wäre das letzte, was ich jetzt anfangen würde. Besonders, wenn ich sowieso nichts ausrichten kann.«
»Meinen Sie, Sie können nichts machen, weil es um diese Familie geht?«
»Wie einfach wäre es, wenn ich sagen könnte: Das ist alles Politik, da laß ich die Finger von. - Nein, es ist der Fall selbst. Egal, wer der Großvater ist, wir würden immer im Nebel stochern, weil wir keine Fakten in der Hand haben. Sehen Sie sich doch an, wie wir hier zusammensitzen und reden: Sie wissen, was los ist, ich weiß, was los ist. Stephanie wußte, was los ist, bis sie auf den Zuckermangel abfuhr; aber vor dem Gesetz bedeutet das gar nichts. Das hasse ich so an Mißhandlungsfällen: Jemand beschuldigt die Eltern. Die bestreiten alles, gehen nach Hause und suchen sich einen anderen Arzt. Und selbst wenn Sie beweisen können, daß etwas nicht stimmt, geraten Sie in einen Zirkus mit Anwälten, Papierkrieg und jahrelangen Gerichtsverfahren, in denen unser Ansehen in den Schmutz gezogen wird. Die Akte des Kindes verstaubt inzwischen in irgendeiner Ablage, und man bekommt noch nicht einmal eine einstweilige Verfügung, um das arme Ding vor seinen Eltern zu schützen.«
»Das klingt, als hätten Sie Erfahrung in der Richtung.«
»Meine Frau arbeitet beim Sozialamt. Das System ist so überlastet, daß nicht einmal gebrochene Knochen ausreichen, um ein Kind zu einem dringenden Fall zu machen. Aber das ist nicht nur hier so. Unten in Texas hatte ich einen Fall, wo eine Mutter ihrem diabetischen Kind Insulin vorenthielt, und wir hatten die größten Schwierigkeiten, dem Kind zu helfen. Die Mutter war obendrein Krankenschwester, und zwar eine der besten.«
»Wo wir gerade von Schwestern reden: Was halten Sie von Vicki Bottomley?«
»Vicki? Ein Drachen, fachlich aber einwandfrei. Verdammt, daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht. Aber wie stellen Sie sich das vor? Bis auf den letzten haben die Anfälle doch immer zu Hause stattgefunden, oder?«
»Vicki hat die Jones' auch zu Hause besucht. Aber ich stimme Ihnen zu: Es ist nahezu ausgeschlossen, daß sie etwas mit Cassies Zustand zu tun hat.«
»Sind es in Münchhausen-Fällen nicht außerdem immer die Mütter? Und die Mutter, mit der wir es hier zu tun haben, ist wirklich sonderbar. Sie ist einfach zu nett zu uns, wenn man bedenkt, daß wir es über Monate nicht geschafft haben festzustellen, was ihrem Kind fehlt. Ich an ihrer Stelle wäre stocksauer und würde fordern, daß wir endlich etwas tun. Aber sie lächelt und lächelt. Sie lächelt ein bißchen zuviel für meinen Geschmack.«
»Und was halten Sie von dem Vater?«
»Den habe ich nie getroffen. Warum? Ist der auch sonderbar?«
»Sonderbar würde ich nicht sagen. Er ist nur ganz anders, als man sich den Sohn von Chuck Jones vorstellt, mit seinem Bart und Ohrring. Und für das Krankenhaus scheint er nicht viel übrig zu haben.«
»Dann hat er wenigstens etwas mit seinem Vater gemeinsam.«
»Eine andere Frage: Könnte der Zuckermangel auch Cassies frühere Symptome erklären?«
»Den Durchfall könnte man vielleicht darauf zurückführen, aber da hatte sie auch Fieber, was eher auf eine Infektion hindeutet. Für die Atemprobleme gilt das gleiche. Wenn der Stoffwechsel versagt, ist im Prinzip alles möglich.«
Er schaute auf die Uhr und hängte sich ein Stethoskop um.
Ich stand auf und dankte ihm. Wir verließen das Untersuchungszimmer und gingen hinaus in den überfüllten Warte raum.
»Sie sprachen von ruhigeren Gefilden … Heißt das, Sie wollen privat praktizieren?« fragte ich.
»Ich schließe mich einer Gemeinschaftspraxis in einer Kleinstadt in Colorado an. Das heißt Skilaufen im Winter, Fischen im Sommer und zwischendurch ein bißchen Arbeit.«
»Wie lange haben Sie es denn hier ausgehalten?«
»Zwei Jahre. Anderthalb Jahre zu lange.«
»Ist es die finanzielle Situation hier, die Sie stört?«
»Das spielt auch eine Rolle, obwohl ich natürlich wußte, worauf ich mich einließ, als ich hier anfing. Aber was mir viel mehr gegen den Strich geht, ist die Einstellung der Leute hier.«
»Sie meinen Großvater Chuck?«
»Ja, ihn und seine Mannschaft. Die verwalten das Krankenhaus, als sei es eine Hamburgerbude.«
Noch immer strömten Patienten herein, obwohl kein Platz für sie war.
Ich dankte ihm noch einmal, daß er sich die Zeit
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