Expedition Ra - Mit dem Sonnenboot in die Vergangenheit
Nach ägyptischem Brauch war der Sarkophag mit einem Deckel aus einer einzigen bearbeiteten Steinplatte verschlossen, die mehrere Tonnen wog, vier Meter lang und eine Mannslänge breit war. Der Deckel und auch die Wände der Grabkammer waren mit Reliefs von Priestern und Priesterkönigen im Profil geschmückt; andere trugen, genau wie im alten Ägypten, zum Zeichen ihres Ranges einen falschen Spitzbart. Als alles bereitet war, wurden etwa zehn junge Männer getötet und vor die Grabkammertür gelegt, um dem Priesterkönig als Sklaven in die nächste Welt zu folgen. Dann verschloß man die Tür zur Grabkammer des Sonnenkönigs mit einer gigantischen Steintür und führte durch das Innere der Pyramide eine Treppe nach oben, die zuletzt mit Kies und Steinen gefüllt und versiegelt wurde. Der Sonnenkönig aus Pa-lenque befolgte innen und außen die alten ägyptischen Vorschriften für Pyramidenbegräbnisse, die einzige Neuerung war nach echtem mexikanischem Brauch ein kleiner Steintempel mit lokalen Hieroglyphen oben auf der Pyramide.
Wir hatten eben das Grab besichtigt. Es war als Teil des ursprünglichen Plans des Meisterarchitekten gebaut worden, an Wänden und Decken hatte man gigantische Platten zugehauen, blank poliert und ohne einen Millimeter Zwischenraum zugepaßt und, nachdem die Grabkammer fertig war, die übrige Pyramide um sie herum gebaut. Weiße Tropfsteinformationen hingen wie Reihen verkalkter Eiszapfen von Gesimsen die Wände herunter. Sie verliehen den unbeweglichen Priesterreliefs mit ihren luxuriösen feierlichen Gewändern einen Hauch tiefgefrorenen Altertums. Die Luft war frisch und kühl. Genau wie in Ägypten hatten die Architekten in dieser Pyramide für ausreichende Belüftung gesorgt. Ein enges Luftrohr wand sich vom Sarkophag neben der Treppe hinauf, und zwei andere Luftschächte führten quer durch die massive Pyramide und auf der Seite ins Freie, wie in ägyptischen Pyramiden.
Als wir wieder zwischen den engen Wänden die lange Steintreppe nach oben gingen, betrachtete ich noch einmal die Konstruktion. Der Treppengang besaß einen sechseckigen Querschnitt, so daß die flache Decke schmaler war als die Treppe. Nur an einem Ort der Welt hatte ich mich durch Treppengänge von genau der gleichen eigentümlichen Form nach oben getastet: in den ägyptischen Pyramiden.
War das alles so ganz natürlich? Es war jedenfalls nicht einfach das Resultat dessen, daß jemand Steine zu einem Haufen übereinandergesta-pelt hatte. Wir steckten den Kopf wieder zwischen den großen zugehauenen Steinblöcken ins Freie und fanden uns aufs Neue vom grünen Dschungel verschlungen. Er war bereit, das ganze Ruinengebiet zurückzuerobern, wenn nicht das archäologische Institut Mexikos Sorge getragen hätte, die größten der vielen vorzeitlichen Monumente des Landes dem Griff des Dschungels zu entziehen.
In Ciudad de Mexico suchten wir Dr. Ignacio Bernal, den Leiter dieses enormen Organisationsapparates auf, dem auch das archäologische Nationalmuseum des Landes angeschlossen war, eines der größten und das modernste der Welt. Mexikanische Archäologen haben sich den Ruf erworben, in der vordersten Reihe der Isolationisten zu stehen, insbesondere die ältere Generation bestand entschieden darauf, daß alles, was sich hinter den mexikanischen Ruinen verbirgt, innerhalb der Grenzen der Nation ausgebrütet worden sei. Jetzt waren wir dabei, diese Meinung herauszufordern, indem wir in einem afrikanischen Schilfboot nach Westen fahren wollten. Wie würden die mexikanischen Spezialisten das aufnehmen? Als ihren hervorragendsten Vertreter fragte ich Dr. Ignacio Bernal, der den Museumswächtern wohlwollend die Weisung erteilte, uns mit Kameraausrüstung und Tonbandgerät einzulassen. Er betrachtete uns etwas skeptisch über die Schulter, als wir uns alle vor einem großen Bauta-stein mit einem realistischen Relief eines langbärtigen Olmeken – dem Symbol des Rätsels, das sich hinter den ältesten Kulturträgern Mexikos verbirgt - versammelten. Bärtige Olmeken führten den Pyramidenbau unter den bartlosen Indianern ein.
»Doktor Bernal«, sagte ich, »glauben Sie, daß sich die alten mexikanischen Kulturen ohne äußeren Einfluß entwickelt haben, oder glauben Sie, daß einzelne Ideen mit primitiven Fahrzeugen über das Meer gebracht worden sein können?«
»Das ist die schwierigste Frage, die man mir stellen könnte«, antwortete der Mann, den wir alle als die führende Autorität Mexikos betrachteten. »Und
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