Export A
Ärmchen, scheppernd landen sie im grünen Stroh; blecherne Kindlein, die niemand in Windeln wickelt.
Es gibt kein Entrinnen. Weihnachten lässt sich nicht abweisen, schert sich einen Dreck darum, ob dir nach Besinnlichkeit zumute ist, wird dir die Tür eintreten und dich in den Schwitzkasten nehmen, bis du dich ergibst. Die Festtagsarmee fällt, begleitet vom Getöse und Gedröhne der Weihnachtslieder, im Schutz der Dunkelheit ins Land ein. Kinderchöre und alte Weiber kreischen durch die stille Nacht. Da kommt er, der zweitausendjährige Feldherr mit der Nummer 25 auf der Brust! In seinen Armen wiegt er Jesuskind und Weihnachtsgans.
An einem Weihnachtsmorgen Anfang der 80er Jahre wird auch ein weiblicher Säugling geboren, der auf den Namen Elisabeth getauft wird. Das bin ich. Fortan werde ich an jedem 25. Dezember an das Ablaufen meiner Aufenthaltsgenehmigung auf Erden erinnert und muss ohnmächtig zusehen, wie sich die Summe der von meinem Lebenskonto abgezogenen Jahre um eines erhöht, alldieweil der Schnitter im Hintergrund kauert und einen Tortenrest von der Sense schleckt. Sein lächerlicher Umhang aus Geschenkpapier lugt hinter dem Christbaum hervor, aus den Augenhöhlen quillt Lametta. Er dreht und wendet sich und lässt den Glitter glitzern. Ich weiß nicht, wann ich ihn das erste Mal bemerkt habe … Doch selbst die kanadische Kälte kann ihn nicht, wie ich gehofft habe, davon abhalten, mir seinen jährlichen Besuch abzustatten.
Am Hoffen und Harren erkennt man den Narren, jaja.
Aufgrund meines Geburtsdatums habe ich also bereits vor meiner »Salvation« eine recht intime Beziehung zu dem menschgewordenen Gottessohn gehabt. Wie Zwillingsgeschwister teilten wir uns die Aufmerksamkeit der Familie. Unsere gemeinsame Geschichte geht zurück bis in den Kreißsaal des Krankenhauses, in dem ich einst kopfüber dem kalten Licht entgegenstürzte, sie ist älter als meine Erinnerung.
Wie viel Wichtiges bleibt unerwähnt?
Welches waren die ersten einprägsamen Worte, Blicke und Gesten? Was hat mir jahrelang die Stirn beträufelt, was schuf den Nährboden für das Ich, welches im Dezember 2001 existierte und auf den Namen Lisa hörte?
Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Erinnerung so zu nehmen, wie sie sich mir präsentiert, und den Anspruch auf eine objektive Wahrheit zu verabschieden. In Anbetracht der unzähligen möglichen Varianten der Ereignisse in der Erinnerung gilt es, demütig den Kopf zu senken und sich still mit dem eigenen, eng begrenzten Verständnisvermögen zu bescheiden …
Aber da ich mich eben noch mit dem Heiland verschwistert habe, mich somit zu meinem Größenwahn bekannt und von der tugendhaften Bescheidenheit verabschiedet habe, will ich an dieser Stelle auf eine weitere Gemeinsamkeit hinweisen, die den charismatischen Wanderprediger und mich verbindet: das Fasten.
Dieser speziellen Versuchung der Entsagung war ich wenige Monate vor meiner Abreise zum ersten Mal erlegen. Vielleicht könnte man mein Hungern als ersten Widerstand, als erstes Aufbäumen, als planlosen, hilflosen Protest bezeichnen, von dem bis heute unklar ist, gegen wen oder was er sich eigentlich richtete. Ich hatte keine Forderungen.
Der Hunger bot sich als Zuflucht an, lockte mich mit der Aussicht, über die eigenen Grenzen hinauszukommen. Was entfesselte den Fluchttrieb, wer war mir auf den Fersen? Vor wem musste ich in dunkle Augenhöhlen und eine leere Bauchhöhle hinein fliehen? Wer waren meine Peiniger? Die Ursachen bleiben unergründlich. Ich erinnere mich an nichts, was einer Antwort nahekäme. Übrig geblieben sind lediglich ein paar abgespeicherte Splitter, Bilderreste einer 50 Tage andauernden Widerspenstigkeit. 50 Tage ohne Beißen und Kauen und Reißen. 50 Tage tropfen Magensäfte auf blanke Schleimhautschichten. 50 Tage genau bemessene Rationen Apfelsaft und Buttermilch, sonst nichts, rein gar nichts. Ich erinnere mich an Schwäche und Kälte, zittrige Hände und weiche Knie.
Hinter meinem Elternhaus wölbt sich ein kleiner Hügel, von dem aus man ins Tal und über die Stadt blicken kann, am Horizont bei Fön ein erstaunliches Alpenpanorama, eine Postkartenidylle. Meine Beine scheiterten an der Steigung, waren einfach zu schwach.
»Nicht vom Brot allein soll der Mensch leben«, sagte mein Zwillingsbruder nach 40 Tagen in der Wüste.
Das, was mein täglich Brot gewesen ist, die Zuwendung, die Anforderungen an mich, konnte meinen Hunger nicht stillen.
Leben, Brot – Brot, Leben; Leben ist
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