Extraleben - Trilogie
auf dem Weg ins Messezentrum durch den Zoo, oder, besser gesagt, über den Zoo, denn über das Gelände des Tierparks spannt sich in großem Bogen eine Fußgängerbrücke. Wenn man ganz oben angekommen ist, riecht es da immer so herrlich nach einer Mischung aus Fritten und Elefantendung, nach einem warmen Kinder-Tag, nach einem Tag wie heute. Auf dem Kanal, der sich unter der Brücke durchschlängelt, gleiten ein paar Tretboote vorbei. Ich halte an und schaue runter - noch eine berechnete Provokation.
»Was ist denn jetzt?«, drängelt Nick. Ich lehne mich ans Geländer und stelle den Rechner ab.
»Mann, wir haben doch noch ewig Zeit!«
Erst tut Nick so, als wolle er weiterlaufen, postiert sich dann aber doch neben mir. Das nächste Boot zuckelt vorbei. Man sieht dem hellblauen Fiberglaskörper an, dass er heute nach einer langen Winterpause zum ersten Mal wieder raus darf. Die makellose orangefarbene Haube glänzt im Licht des frühen Vormittags, und da, wo das Wasser an den weißen Bootsrand schlägt, zieht sich noch keine grüne Algenlinie entlang. Mutter und Tochter sitzen im Boot. Das Mädchen, vielleicht fünfundzwanzig, trägt ein lila Top, Jeans und -leicht optimistisch-Flipflops. Sie lümmelt in ihrem Sitz und tut so, als würde sie ihre Füße bewegen. In Wirklichkeit konzentriert sie sich total darauf, ihr Gesicht, das zu 95 Prozent von einer Sonnenbrille bedeckt ist, auf die Sonnenstrahlen auszurichten, die durch die kahlen Bäume am Ufer funzeln. Dabei lächelt sie ununterbrochen. Sieht immer ein bisschen nach »The Day After« aus, dieses Sonnen, bevor das erste Laub da ist. Ihre Mutter, grauhaarig und mit einer deutlich kleineren Sonnenbrille, ist das, was man wohl »rüstig« nennt. Sie tritt so energisch in die Pedale, wie es ihre Escada-Rüstung zulässt, und bewegt dazu ununterbrochen ihre pfirsichfarbenen faltigen Lippen. Verstehen kann man nichts von dem, was sie sagt, aber wahrscheinlich geht es in die Richtung von »Wenn die Blätter so hellgrün sind, das ist doch das Schönste«.
Und sie hat Recht. War das letztes Jahr? Oder vorletztes? Jedenfalls gab es da diesen Tag, diesen Moment, von dem einem die Eltern früher immer erzählt hatten und von dem man annahm, dass er im eigenen Leben niemals kommen würde. Und dann kommt er doch, und zum ersten Mal bemerkt man, wie die Welt jenseits der Eingabezeile eigentlich ausschaut. Dass die Blätter im Frühling eben echt hellgrün sind und ganz anders aussehen als im Sommer. Überhaupt, dass es Jahreszeiten gibt, die Zeit vergeht und eigentlich schon lange Halbzeit ist - rein statistisch. Auf einmal nimmst du diese alten Häuser wahr - genau wie die hier neben dem Tierpark; ihre Fassaden haben solche Einkerbungen, und die Balkons sind verschnörkelt wie der Rand eines Lebkuchenherzens. Natürlich hast du auch vorher gesehen, dass da alte Häuser sind. Aber jetzt guckst du sie dir echt an. Und sie sind wirklich schön. Was geht denn jetzt ab? Erschrocken über die unverhoffte Softness bläst du am Bildschirm fünf Stunden hintereinander Zombies die Hirne raus, doch es hilft nichts: Wenn du aus dem Fenster siehst, sind die schönen alten Häuser trotzdem noch da. Ob Nick sie auch bemerkt hat? Eher nicht, Frühlings-oder Herbstgefühle sind nicht so sein Ding. Nachdem er ungefähr zwanzig Sekunden in den Kanal gestarrt hat, beschließt er, dass es Zeit ist, sich wieder den wirklich wichtigen Dingen zu widmen - und bei ihm bedeutet das: den gleichen Themen, über die wir schon auf dem Schulhof vor fünfundzwanzig Jahren gesprochen haben. Er fängt an, aus dem Brotkästchen zu plaudern - ein Gesprächsthema, das kaum weniger zur Stimmung passen könnte.
»Also ich hab nochmal überlegt: Es gibt keinen Todes-Poke. Das ist Stuss«, legt er los. Ich brauche ein paar Sekunden, um in den Retro-Modus umzuschalten, und halte erst mal ein bisschen dagegen.
»Aber sicher - wir haben's doch selbst ausprobiertl«
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Fünfundachtzig muss das gewesen sein. Unter den Geeks in der Schule ging damals das Gerücht rum, man könne den Commodore 64 durch ein einfaches Poke-Kommando zerstören, und zwar endgültig. War natürlich völliger Schwachsinn, schließlich schreibt der Befehl Poke nur eine Zahl in den Speicher. Eine reine Software-Operation, als ob man bei einem Digitalwecker die Alarmzeit eingibt. Dabei kann nichts ernsthaft kaputtgehen. Die Legende hielt sich trotzdem hartnäckig. Ganz sicher, die geheimnisvolle Zahlenkombination sollte den Brotkasten
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