Extraleben - Trilogie
Kinder hat«, bemerkt Nick. Dabei gibt er sich Mühe, im Plauderton zu bleiben. Als er sieht, dass ich sein Zittern bemerke, reicht er mir das Tape eilig wieder rüber. Ist auch besser so, bei der Sonne, nachher leiert die Aufnahme wie unser Interrail-Mix von Neunundachtzig. Ich stecke die Kassette in meine Hosentasche und lenke ab, damit er sein Gesicht wahren kann.
»Hast du dir das Erwachsensein so vorgestellt?«
Nick denkt kurz nach.
»Du meinst: Auf einem Bordstein in Kuala Lumpur sitzen, mit einem fünfundzwanzig Jahre alten Laptop, einem Haufen stinkender Papiere und drei Typen im Nacken, die uns um die halbe Welt verfolgen und weiß Gott was mit uns machen, wenn sie uns kriegen. Nein, so habe ich mir das Erwachsensein nicht vorgestellt.«
Wir lachen beide kurz und herzlich. Es gäbe dazu noch viel zu sagen, aber wir sind so müde wie nach der Führerscheinprüfung und dem mündlichem Abi zusammen. Nachdem die Typen Irvings Wohnungstür eingetreten hatten, raste alles nur noch vorbei: Zwei, vielleicht drei Minuten haben sie gebraucht, um das Zimmer durchzuwühlen; in unserem Versteck ein Stockwerk drüber war nur das dumpfe Krachen der Aktenordner auf dem Boden zu hören. Dann zogen sie ab, ohne etwas mitzunehmen - zumindest glauben wir, dass sie nichts mitgenommen haben, denn dafür reichte die Zeit nicht. Und ihre Abfahrt klang, als ob sie sauer waren: Der Fahrer gab sofort nach dem Anlassen Vollgas. Nachdem das Motorengeräusch endgültig verschwunden war, warteten wir sicherheitshalber noch eine halbe Stunde und rannten los, so schnell und weit, wie wir konnten - genau wie damals, als wir Betz' Commodore 64 gekillt hatten. Vielleicht. Sehr weit sind wir nicht gekommen. Nach drei Blocks rasselte Nicks gesamter Papierstapel runter und wir beschlossen, nun in Sicherheit zu sein. Jetzt schwitzen wir neben der Einfahrt zu einem Fabrikgelände still vor uns hin. Wir haben den Platz auf dem blauen Bordstein aus-gewählt, weil es eine adrette Fabrik ist, mit bewässertem Rasenstreifen vor der Mauer und einem weiß getünchten, geschwungenen Betondach. Niemand wird es wagen, uns hier, im Blickfeld von Dutzenden von Überwachungskameras, in ein Auto zu zerren, oder? Die letzten Gewitterwolken haben sich verzogen und Platz gemacht für die Äquatorsonne. Gnadenlos sticht sie auf unsere Köpfe runter und macht die Gedanken träge. Meine Handfläche brennt: Beim Hinfallen haben Steinchen zwei tiefe Gräben in die Haut gezogen. Wenn man an der Seite zieht, öffnet sich der Schnitt sogar ein bisschen und der Schweiß kann ungehindert reinlaufen. Da werden sich in der Tropenhitze bestimmt ruckzuck Typhus, Cholera oder der Marburg-Virus einnisten. Bitte einmal zum Institut für Tropenkrankheiten! Zumindest den Dreck abwaschen müsste man. Als die ersten Lastwagenfahrer beim Einbiegen ins Werkstor komisch gucken, wird es Zeit für eine Entscheidung. Es kann nicht mehr lange dauern, bis die adrette Fabrikleitung den vielleicht nicht ganz so adretten Werkschutz vorbeischickt. um zu checken, was da für Freaks vor der Tür rumhängen.
»Und jetzt?«, frage ich.
»Erst mal ein bisschen in der Stadt abhängen und den ganzen Kram sichten«, murmelt Nick, während er sich die Schläfen reibt.
»Direkt ins Hotel zu gehen ist, glaube ich, keine gute Idee, weil sie uns da wahrscheinlich erwarten. Das sollten wir erst versuchen, wenn es dunkel ist.«
An dieser Stelle wäre es bis vor zwei Stunden noch meine Pflicht gewesen, ihn mit äußerster, Scully-mäßiger Verachtung fertigzurühren, so von wegen: aha, da müssen wir uns wohl im Dunkeln an den Dunkelmännern vorbeischleichen! Haha, das ist wohl unsere »Dark Mission,,! Doch das geht jetzt nicht mehr. Nick hat Recht, sie sind real. Unvorstellbar. Dafür, dass er zum ersten Mal mit seinem Verfolgungswahn richtig lag, bleibt Mister Top Secret erstaunlich ruhig. Keine Siehste—Predigt sprudelt diesmal aus ihm heraus, und er fängt auch nicht an, die ganze Sache in Richtung einer außerirdischen Invasion weiterzuspinnen. Nein, er schweigt das befriedigte Schweigen von einem, der es schon immer gewusst hat. Wobei - eine Hintertür bleibt noch .
»Und was ist, wenn die Typen nicht uns verfolgt haben, sondern nur zufällig zur gleichen Zeit am gleichen Ort waren?«
Nach Jahrzehnten von Diskussionen lernt der Beifahrer natürlich auch dazu. Anstatt in den Köder zu beißen und mit jeder Zelle seines Körpers zu explodieren, winkt er den Einwand ohne nennenswerten Widerstand
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