Fabelheim: Roman (German Edition)
ihrem Körper spannten sich. Opa schmatzte mit den Lippen, er bewegte sich. Eine Mischung von Schuldbewusstsein und Panik machte es Kendra vorübergehend unmöglich, sich von der Stelle zu rühren. Seth sah nicht zu ihr herüber. Er beugte sich über etwas in der Küche. Opa lag jetzt wieder still da.
Kendra faltete den Brief zusammen, schob ihn wieder in den Umschlag und versuchte, ihn so hinzulegen, wie sie ihn vorgefunden hatte. Dann schlich sie zu Seth hinüber, der über einem schlammigen Hufabdruck kauerte.
»Sind die hier drin geritten?«, fragte er.
»Das würde den Lärm erklären«, murmelte Kendra und versuchte, lässig zu klingen.
Lena erschien, bekleidet mit einem Bademantel und
wirr abstehenden Haaren, in der Tür. »Seht euch diese Frühaufsteher an«, sagte sie leise. »Ihr habt uns erwischt, bevor wir aufräumen konnten.«
Kendra starrte Lena an und versuchte, eine undurchdringliche Miene aufzusetzen. Die Haushälterin ließ mit nichts erkennen, dass sie gesehen hatte, wie sie heimlich den Brief gelesen hatte.
Seth deutete auf die Hufabdrücke. »Was zum Kuckuck ist denn hier passiert?«
»Die Verhandlungen sind gut gelaufen.«
»Ist Maddox noch hier?«, fragte Seth hoffnungsvoll.
Lena schüttelte den Kopf. »Er ist vor etwa einer Stunde mit einem Taxi weg.«
Opa Sørensen kam mit Boxershorts, Socken und einem mit braunem Senf bekleckerten Unterhemd in die Küche geschlurft. Er blinzelte sie an. »Warum seid ihr zu dieser gottlosen Stunde schon alle auf den Beinen?«
»Es ist nach sieben«, sagte Seth.
Opa verdeckte ein Gähnen mit der Faust. In der anderen Hand hielt er den Umschlag. »Ich fühle mich heute ein wenig angeschlagen – vielleicht lege ich mich für ein Weilchen hin. Bis dann.« Er kratzte sich am Oberschenkel und schlurfte davon.
»Vielleicht könnt ihr heute Morgen draußen spielen«, sagte Lena. »Euer Großvater war bis vor vierzig Minuten noch wach. Er hatte eine lange Nacht.«
»Es wird mir schwerfallen, Opa ernst zu nehmen, wenn er uns erzählt, dass wir die Möbel mit Respekt behandeln sollen«, bemerkte Kendra. »Es sieht aus, als wäre er mit einem Traktor hier durchgefahren.«
»Von Pferden gezogen!«, ergänzte Seth.
»Maddox weiß ein Fest zu schätzen, und dein Großvater ist ein entgegenkommender Gastgeber«, erwiderte
Lena. »Ohne eure Großmutter, die dem Frohsinn immer gewisse Schranken auferlegt, sind die Dinge ein wenig zu festlich geworden. Und die Satyre haben alles natürlich nur noch schlimmer gemacht.« Sie deutete auf die schlammigen Hufabdrücke.
»Satyre?«, fragte Kendra. »So was wie Ziegenmänner?«
Lena nickte. »Manch einer würde sagen, dass sie eine Party allzu sehr in Schwung bringen.«
»Das sind Ziegenabdrücke?«, fragte Seth.
»Satyrabdrücke, ja.«
»Ich wünschte, ich hätte sie gesehen«, klagte Seth.
»Deine Eltern wären froh, dass du sie nicht gesehen hast. Satyre würden dir nur schlechte Manieren beibringen. Ich glaube sogar, sie haben sie erfunden.«
»Ich bin traurig, dass wir die Party verpasst haben«, sagte Kendra.
»Das musst du nicht sein. Es war keine Party für junge Leute. Als Verwalter würde dein Großvater niemals trinken, aber für die Satyre kann ich mich nicht verbürgen. Wir werden eine richtige Party feiern, bevor ihr wieder fahrt.«
»Werden Sie Satyre einladen?«, fragte Seth.
»Wir werden sehen, was dein Großvater dazu sagt«, antwortete Lena zweifelnd. »Vielleicht einen.« Lena öffnete den Kühlschrank und schenkte zwei Gläser Milch ein. »Trinkt eure Milch und dann lauft. Ich habe schwere Aufräumarbeiten vor mir.«
Kendra und Seth nahmen ihre Gläser. Lena öffnete die Speisekammer, nahm einen Besen und eine Kehrschaufel heraus und verließ den Raum. Kendra trank ihre Milch mit mehreren tiefen Schlucken und stellte ihr leeres Glas auf die Theke. »Hast du Lust, schwimmen zu gehen?«, fragte sie.
»Ich komme nach«, sagte Seth. Er hatte noch Milch in seinem Becher.
Kendra ging.
Nachdem er seine Milch ausgetrunken hatte, spähte Seth in die Speisekammer. So viele Regale, auf denen sich so viel Essbares stapelte! Auf einem Regal befand sich nichts als große Gläser mit Eingekochtem. Bei näherer Erkundung zeigte sich, dass die Gläser in Dreierreihen hintereinanderstanden.
Seth ging rückwärts aus der Speisekammer und sah sich um. Dann trat er wieder ein, nahm sich ein großes Glas Brombeeren und zog eines aus der zweiten Reihe nach vorne, um die Lücke zu verbergen. Ein halb
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