Fabelheim: Roman (German Edition)
hier«, ermahnte Oma sie. »Wir dürfen unsere Lage nicht draußen im Freien besprechen.« Sie bedeutete ihnen, näher heranzurücken, und fuhr mit gedämpfter Stimme fort. »Lassen wir es bei Folgendem bewenden. Wir müssen heute noch zu eurem Opa gehen. Morgen könnte es bereits zu spät sein. Wir werden unverzüglich zum Haus zurückkehren, uns die nötige Ausrüstung holen und zu dem Ort gehen, an dem er festgehalten wird. Ich werde euch seinen genauen Aufenthaltsort sagen, sobald wir im Haus sind. Muriel weiß vielleicht noch nicht, wo er ist, und selbst wenn sie es weiß, soll sie nicht erfahren, dass wir es ebenfalls wissen.«
Oma hörte auf zu flüstern und scheuchte sie den Weg entlang. »Tut mir leid, wenn ich etwas ungesellig bin, seit wir Neros Höhle verlassen haben«, sagte sie, nachdem sie einige Minuten schweigend nebeneinander hergegangen waren. »Ich muss mir einen Plan zurechtlegen. Ihr beiden
habt wirklich vorzügliche Arbeit geleistet. Niemand sollte einen Nachmittag damit verbringen müssen, die Füße eines Trolls zu kneten. Seth, du warst ein Held auf den Baumstämmen, und Kendra, du hast während den Verhandlungen genau zur richtigen Zeit gut geblufft. Ihr habt beide meine Erwartungen bei weitem übertroffen.««
»Ich wusste gar nicht, dass du Masseuse bist«, sagte Kendra.
»Ich habe es von Lena gelernt. Sie hat rund um den Globus Erfahrungen gesammelt. Wenn ihr jemals eine Chance bekommt, euch von ihr massieren zu lassen, dann lasst sie euch nicht entgehen.« Oma schob sich einige zerzauste Haarsträhnen hinters Ohr. Einen Augenblick später war sie wieder reserviert, schürzte die Lippen und blickte in die Ferne, während sie weiterging. »Ich habe einige Fragen an euch beide, Dinge, über die wir im Freien reden können. Seid ihr einem Mann namens Warren begegnet?«
»Warren?«, wiederholte Seth.
»Gut aussehend und still? Weißes Haar und weiße Haut? Dales Bruder.«
»Nein«, antwortete Kendra.
»Sie könnten ihn am Mittsommerabend ins Haus geholt haben«, hakte Oma nach.
»Wir waren bis nach Sonnenuntergang mit Opa, Dale und Lena zusammen, aber jemand anderen haben wir nicht gesehen«, sagte Seth.
»Ich habe noch nicht einmal von ihm gehört«, fügte Kendra hinzu.
»Ich auch nicht«, bestätigte Seth.
Oma nickte. »Dann muss er in der Hütte geblieben sein. Habt ihr Hugo kennengelernt?«
»Ja!«, sagte Seth. »Er ist toll. Ich frage mich, wo er hingegangen ist.«
Oma sah Seth zögernd an. »Er hat sicher seine Arbeiten in der Scheune erledigt.«
»Ich glaube nicht«, sagte Kendra. »Wir mussten gestern die Kuh melken.«
»Ihr habt Viola gemolken?«, fragte Oma, völlig erstaunt. »Wie?«
Kendra erzählte, wie sie die Leitern aufgestellt hatten und an den Zitzen heruntergerutscht waren. Seth steuerte Einzelheiten darüber bei, wie verschmiert sie anschließend gewesen waren.
»Was für schlaue Kinder ihr seid!«, rief Oma. »Stan hatte euch nichts von ihr erzählt?«
»Wir haben sie gefunden, weil sie so laut gemuht hat«, erklärte Seth. »Die ganze Scheune hat gezittert.«
»Es sah aus, als würde ihr Euter gleich explodieren«, ergänzte Kendra.
»Viola ist unsere Milchkuh«, erklärte Oma. »Jedes Reservat hat ein solches Tier, obwohl es nicht immer Rinder sind. Sie ist älter als das Reservat selbst, das im Jahr 1711 gegründet wurde. Zu jener Zeit hat man sie mit dem Schiff von Europa hierhergebracht. Sie war der Abkömmling einer Milchkuh in einem Reservat in den Pyrenäen und ungefähr hundert Jahre alt, als sie die Reise hierher antrat, und sie war schon damals größer als ein Elefant. Seither ist sie hier und wird mit jedem Jahr noch ein Stückchen größer.«
»Dann wird sie wohl bald nicht mehr in die Scheune passen«, bemerkte Seth.
»Ihr Wachstum hat sich im Laufe der Jahre verlangsamt. Aber, ja, sie könnte eines Tages zu groß sein für ihr gegenwärtiges Zuhause.«
»Von ihr stammt die Milch, die die Feen trinken«, sagte Kendra.
»Nicht nur die Feen trinken ihre Milch. Alle Geschöpfe des Feenreichs verehren diese uralte Rinderrasse und hegen und pflegen sie. Sie belegen ihr Futter täglich mit Zaubern und bringen ihr geheime Opfer dar, um sie zu ehren und zu nähren. Im Gegenzug wirkt die Milch dieser Rasse wie ein göttlicher Trank, der unabdingbar für das Überleben der Feen ist. Es ist kein Wunder, dass Kühe an manchen Orten der Welt immer noch als heilig angesehen werden.«
»Sie muss tonnenweise Dung produzieren«, meinte
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