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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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gesprochen, weißt du noch?«
    Colin musste nachdenken. Schließlich sagte er: »Am Grab.«
    Sie beugte sich vor und küsste ihn. »Einlach so.« Ihr Flüstern war wie ein Atemzug.
    Er sah überrascht aus.
    Seine Hand hielt sie noch immer. »Ich dachte, das brauchst du jetzt.«
    Colin Darcy stand unbeweglich da und starrte sie nur an.
    »Wenn dies ein Film wäre, dann würdest du jetzt etwas sagen«, stellte sie fest.
    Und wartete.
    »Und?« Sie zog an seiner Hand.
    Doch Colin Darcy hatte die Worte verloren, nach denen er suchte.
    »Du hast schöne Augen, Colin, aber ich weiß, dass du auch eine schöne Stimme hast.« Sie verzog den Mund ein wenig. »Naja, du quakst etwas, hat dir das schon mal jemand gesagt?«
    »Ich kann es nicht fassen, dass du so lange fort gewesen bist.« Am Ende waren ihm die Worte doch noch eingefallen.
    »Wir sind beide fort gewesen«, entgegnete sie. »Hm.«
    »Aber jetzt bleibe ich.«
    »London ist hundert Leben und tausend Jahre entfernt.« Er wusste selbst nicht recht, wie er das meinte.
    Dann dachte er an das Grab.
    An das Grab auf dem Galloway Graveyard.
    Graham Witherspoon, Doktor, stand in den grauen Basaltstein gemeißelt. Dazu noch die Jahreszahlen 1811 bis 1864. Wer immer es gewesen sein mochte, sein Grabstein war riesig und irgendwann wohl auch einmal sehr prachtvoll gewesen. Doch damals, als Colin und das Friedhofsmädchen sich im Schatten des Steines trafen, da griff schon grünes Moos nach den Schriftzeichen, die verschnörkelt waren wie einstmals lebendige Wesen, und Efeu rankte sich dicht um den Stein, als wolle er ihn daran hindern, sich von diesem Platz wegzubewegen.
    Colin kannte Livia erst seit einem Tag.
    Nachdem er ihr zufällig über den Weg gelaufen war, hatte er ihr von Danny erzählt - und schweigsam hatte ihr Blick auf ihm geruht, während die Geschichte weiter und weiter fortschritt. Nicht ein einziges Mal hatte sie ihn unterbrochen, auch dann nicht, als Colin von der Sache mit dem Spinnentier berichtet hatte.
    »Deine Mutter ist wirklich seltsam«, war alles gewesen, was sie dazu gesagt hatte.
    Galloway Graveyard war unbemerkt zu dem Ort geworden, der ihnen beiden gehörte.
    Sie saßen auf dem flachen grauen Stein, der sich aus dem wuchernden Grünzeug erhob, welches das gesamte Grab bedeckte. Tief, tief unter ihnen ruhte Graham Witherspoon, Doktor, und einmal an diesem Tag dachte Colin kurz an den Toten und daran, dass niemand mehr wusste, wer er war, und Livia und er selbst vielleicht die Einzigen sein würden, in deren Gedächtnis der Mann die Jahre, die noch kämen, überdauern würde. Nun ja, sein Name jedenfalls.
    »Kannst du es mir erklären?«, fragte Livia. Sie trug einen Schlapphut, als sie Colin zum zweiten Mal traf.
    »Ich weiß nicht.«
    Sie nickte. Mit ihren schweren Stiefeln bohrte sie gedankenverloren eine flache Mulde in die Graberde. »Wie geht es Danny?« Der Hut ließ ihr Gesicht zur Hälfte im Schatten verschwinden.
    »Er ist sehr ruhig. Das ist er immer, wenn sie ihn bestraft hat.«
    »Und du?«
    »Was meinst du?«
    »Wie kommst du damit klar?«
    Colin seufzte, drehte sich um und betrachtete den Grabstein von Doktor Witherspoon, der ihm keinen Rat gab, sondern einfach nur kalt und grau dastand.
    »Ich denke einfach nicht daran«, antwortete er leise. »Das ist es, was Danny und ich tun, wenn es vorbei ist. Wir denken einfach nicht mehr daran.« Er schaute Livia in die Augen, die nur ein bisschen im Schatten lagen, und dachte heimlich, dass sie wunderschön waren, wie tiefe dunkle Seen, in denen Träume schlummerten, die einen im Schlaf glücklich lächeln lassen. »Wir reden nicht. Ich meine, wir führen keine Gespräche. Mutter redet, und wir hören zu.«
    »Und dein Vater? Weiß dein Vater, dass sie diese Dinge mit euch tut?«
    Colin nickte. »Na klar, er weiß es. Aber er lässt es geschehen.«
    »Einfach so?«
    »Ja, einfach so.«
    »Und die anderen?«
    »Welche anderen?«
    »Miss Robinson und Mr. Munro, wissen die es auch?«
    »Ja, ich denke schon.«
    »Und auch sie tun nichts, um euch zu helfen?«
    »Nein.«
    »Das ist seltsam.«
    »Miss Robinson redet oft mit Vater über die Sache, das habe ich schon gehört. Aber Mr. Munro kümmert sich gar nicht darum. Er ist auch selten im Haus. Er hat eine eigene Kate, draußen im Park.«
    »Hm.«
    Ein lauer Wind fegte Blätter zwischen den Gräbern umher, und es roch nach Meer.
    »Sieh her«, sagte Livia mit einem Mal.
    Colin erkannte, dass sie ein Olivenglas mitgebracht hatte. Sie öffnete es,

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