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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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»Unvergleichlich«, antwortete er.
    Sie folgten so vielen Korridoren und passierten so viele Winkel, dass Livia irgendwann fragte: »Wie schafft man es hier, sich nicht zu verlaufen?«
    »Man gewöhnt sich daran.«
    Colin spürte, wie er schneller zu atmen begann. Er schwitzte.
    »Du willst mir doch nicht etwa die Hand zerquetschen, oder?«
    Beschämt ließ er Livia los. »Tut mir leid.«
    Sie berührte seine Schulter. »Wie schlimm ist es für dich, wieder hier zu sein?«
    »Ziemlich schlimm.«
    »Warum gehen wir dann nicht einfach wieder?«
    Er blieb vor einer Tür stehen. »Deswegen«, sagte er. Dann öffnete er sie. »Das war mein Zimmer.« Drinnen war es noch dunkel, weil die Fensterläden geschlossen waren.
    Colin ging zum Fenster und öffnete es, und ein Anblick, der einem den Atem raubte, bot sich den Besuchern.
    »Das ist wunderschön«, stellte Livia fest.
    »Ja, das ist es, nicht wahr?«
    Man konnte bis zum Meer sehen.
    Der Blick streifte die Wipfel der hohen Bäume, und weit dahinter wurde man des schmalen Streifens Sand gewahr, welcher der Strand nahe Black Head sein musste. Drüben, vor Black Head, lag der Galloway Graveyard, und südlich davon die Kate, in der Livia jetzt wohnte. Ein kühler Wind blies zu ihnen herein, und die frische Luft, die lange nicht mehr durch diesen Raum geweht war, tat gut.
    »Das Zimmer sieht noch bewohnt aus«, stellte Livia fest. »Na ja, sieht man einmal davon ab, dass alles total verstaubt ist.«
    Es war das typische Zimmer eines Jugendlichen. Es gab Regale voller Bücher und voller Schallplatten, einen Schreibtisch, der voll mit Utensilien, ein Bett, das noch bezogen war.
    »Es sieht so aus, als hättest du das Zimmer erst heute Morgen verlassen.«
    »Ja.«
    Sie ging zum Kleiderschrank und öffnete ihn. »Das alles hast du früher getragen?« Sie grinste, doch dann wurde ihr bewusst, dass all die Sachen noch immer da waren. Auch der Kleiderschrank sah aus, als wäre dieses Zimmer noch immer bewohnt. Sie zog die Schubladen auf und sah hinein: alles noch da.
    »Was hat das zu bedeuten?«
    »Als ich damals nach Cambridge ging«, sagte Colin mit einer Stimme, die so leise war, dass man sie kaum verstehen konnte, »als ich dieses Haus verlassen habe, da habe ich wirklich all das, was noch hier war, hinter mir gelassen.«
    »Du hast deine Bücher, deine Schallplatten, deine Sachen ... du hast nichts davon mitgenommen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Ravenscraig sollte Vergangenheit sein.«
    »Oh, Colin«, flüsterte sie betroffen.
    »Ich wollte nicht, dass mich etwas von hier begleitet. Verstehst du, ich hatte Angst, dass das, was mein altes Leben gewesen war, mir mein neues Leben genauso zur Hölle machen könnte, wie ... Nun ja, du siehst ja, wie Ravenscraig »Groß«, sagte sie.
    »Riesig«, sagte er. »Und voller Geschichten.«
    Sie wusste, was er meinte.
    »Niemand kam gern hierher«, erinnerte sich Colin. »Die anderen Jungs, Dannys Freunde und auch meine, wollten nie zu uns kommen. Das Haus war ihnen unheimlich.«
    »Kann ich verstehen.«
    »Wir waren oft allein, früher.«
    »Und deswegen hast du dich um Danny gekümmert.«
    »Ja.« »Weil er nicht so allein sein sollte, wie du es warst.«
    »Ja, irgendwie war es wohl so.« Colin ging zu dem Regal und zog ein staubiges Buch heraus: Alice im Wunderland. Er betrachtete es, und er sah aus, als sei ihm mehr als unwohl dabei. »Daraus hat Mutter uns so oft vorgelesen, als wir noch ganz klein waren.« Er seufzte. »Das sei das wahre Leben, pflegte sie zu sagen.«
    »Hat sie euch das gezeigt?«
    »Sie ist mit uns dort gewesen.«
    »Im Wunderland?«
    Colin fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Ja, klingt aber verrückt, oder?! Wir haben sie alle kennengelernt. Die Grinsekatze, Bill und Unbill, das Raupentier, Humpty und Dumpty, den Schildkrötensupperich. Ich weiß noch, wie böse der Märzhase sein konnte. Und die Herzkönigin war nicht mal das Schlimmste, was einem dort widerfahren konnte.« Er hielt das alte Buch in der Hand, und alles, aber wirklich alles, kehrte zurück. Das Haus der Spiegel und die wuselnden Spiegelweltinsekten, auf deren flink zuckenden Körpern man noch seine eigenen Schreie hatte erkennen können, wenn sie einen angefallen hatten. Dideldum und Dideldei mit den scharfen Zähnen und das Einhorn, das vom Löwen zerfleischt worden war und flehend um Hilfe ersucht hatte, die die beiden Jungs ihm nicht hatten zuteil werden lassen können, weil sie selbst um ihr Leben hatten fürchten müssen. »Wenn man

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