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Fabula

Fabula

Titel: Fabula Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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der Colin Darcy, dem ich damals auf dem Friedhof über den Weg gelaufen bin. Du versteckst dich. Du ziehst den Kopf ein und versteckst dich in dieser künstlichen Welt, die für dich so wichtig geworden ist, dass du schon glaubst, dies sei das wahre Leben.«
    »Wie bin ich denn damals gewesen?«, wollte er wissen.
    »Ganz anders«, sagte sie, »ganz, ganz anders.« Sie musste lächeln. »Naja, irgendwie auch so, wie du jetzt bist. Bloß anders. Du warst nicht so ...« Sie suchte nach dem passenden Wort und fand es: »Vernünftig.«
    »Ich war nicht vernünftig?«
    Eine Welle schwappte über seine Füße.
    Das Telefon ertönte.
    Colin zog ein Gesicht und meldete sich. Es war Peter Randall höchstselbst.
    »Colin«, begann er in seinem väterlichen Tonfall, der keineswegs so gemeint war, »Sie wissen, wie wichtig dies für uns ist. Wenn wir SigmaCom als Kunden verlieren, dann schlagen die Jungs in der Finanzabteilung ihre Purzelbäume. Wir müssen die Earth'n-Eco-Watchers- Sache schnell in den Griff bekommen.«
    »Ich weiß.«
    »Ist das alles, was Sie dazu sagen?«
    »Ja.« Eigentlich war das alles, was er dazu zu sagen hatte.
    »Ich möchte«, bellte Randall auf einmal ins Telefon, »dass Sie morgen wieder in London sind, haben Sie verstanden? Das Team muss vollzählig sein, gerade jetzt.«
    »Ja«, war alles, was Colin erwiderte.
    Dann legte Randall auf.
    »Idiot«, sagte Colin.
    »Dein Chef?«
    Er nickte.
    Livia blieb stehen und funkelte ihn an, »Genau das meine ich, Colin.«
    »Was? Das hier?« Er hielt das Telefon in die Höhe, als sei es eine gute Antwort.
    »Du bist nach Cambridge und London gegangen und versteckst dich vor dir selbst. Du hast eine Scheißangst vor dem, was damals passiert ist. Es hat dir eine solche Angst gemacht, dass du dir von allen möglichen lausigen Jobs, denen vernünftige Menschen nachgehen, ausgerechnet diesen einen lausigen Job ausgesucht hast.«
    »Es ist kein lausiger Job.«
    »Aber es ist ein phantasieloser Job!«
    Er sagte nichts.
    »Du hast mir von Rio Bravo erzählt, erinnerst du dich?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »DAS ist dein Problem, Colin. Du hast mir von einer Dschinni erzählt, die dir die Stirn geküsst hat. Du hast mir erzählt, wie du Danny geholfen hast, du hast mir gesagt, was du getan hast, wenn eure Mutter sich die nächste Strafe ausdenken wollte.«
    »Du kannst dich daran erinnern?«
    »Ja, das kann ich. All die Jahre habe ich nichts von dem vergessen. Deine Mutter, Colin, ist ein böser Mensch. Aber du bist es nicht. Und Danny ist es auch nicht. Ihr beiden habt einfach nur Pech gehabt. Niemand kann sich die Eltern aussuchen. Niemand kann sich aussuchen, welche Fähigkeiten er hat und welche nicht. Aber du, Colin, kannst die gleichen Dinge tun, die deine Mutter tun kann. Ich habe es erlebt. Es war nur ein kurzer Moment, damals unter dem Mistelzweig, aber da war so viel mehr als nur der Kuss.«
    Colin war durcheinander.
    Er fasste sich an den Kopf und schloss die Augen. Das Meer rauschte jetzt irgendwo in der Finsternis. Etwas schlummerte unter der Oberfläche. Es war wie die See, dieses große graue Meer, das an den Strand wogte, das es ihm langsam, schleppend langsam nahebrachte. Denn etwas lag unter all dem Grau verborgen, etwas, was noch immer lebendig war. Aber man konnte es nicht sehen, wenn man nicht die Hände danach ausstreckte. Man musste es packen und an Land ziehen, wenn man es betrachten wollte. Und Colin Darcy war nach Cambridge und nach London gezogen, um das Meer nicht länger betrachten zu müssen. Er war so weit fortgegangen, weil er geflohen war.
    Er war davongelaufen.
    Mitten hinein ins hektische London-Leben.
    Ja, er war davongelaufen.
    Vor seiner Familie, vor Ravenscraig, vor sich selbst.
    »Du hast mir eine kurze Geschichte erzählt, Colin, damals, unter dem Mistelzweig. Na ja, eigentlich war es nicht einmal eine richtige Geschichte.«
    Colin öffnete die Augen, und jetzt wirkte er verzweifelt. »Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, Livia. Wirklich, ich ...« Er ging vom Wasser weg und setzte sich in den Sand. »Ich spüre, dass da etwas sein muss, dass da etwas ist, aber ich ...«
    Sie achtete nicht auf ihn, sondern redete einfach weiter. »Du hast mir erklärt, wie Peter Pan fliegen gelernt hat. Es war nur ein einziger glücklicher Gedanke, der ihn in die Luft erhob. Ein einziger Gedanke nur, so steht es in dem Buch.«
    Colin starrte sie an. Seine Hände zitterten. Langsam spürte er, was dort unter der Oberfläche trieb. Er musste

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