Fächerkalt
weiterhüpften.
Nein, sagte
er erneut, als er die Karlstraße wieder erreichte, klopfte energisch seine Pfeife
am Absatz aus, schloss den großen Regenschirm und betrat die Bäckerei, die ihm in
seinen Gedankennöten wie ein Segen vorkam.
Zwei Schokocroissants
und einen großen Café au Lait genoss er an einem der Stehtischchen, von wo aus er
einen guten Ausblick auf die belebte Straße hatte.
Oskar Lindt
schaltete um – vom Programm ›Grübeln‹ auf das Programm ›Leute-Schauen‹. Auch dabei
hatten sich schon häufig erstaunliche Erkenntnisse ergeben.
Nicht etwa,
dass er irgendwelche verdächtigen Personen bemerkt hätte. Nein, er ließ einfach
seiner Fantasie freien Lauf und malte sich aus, welche Geschichten sich da gerade
vor seinen Augen abspielten.
Der Alte
mit grauem Haar, grauer Mütze, grauem Gummimantel und griesgrämigem Blick, der einen
ebenso dreinblickenden und grauen Zwergschnauzer Gassi führte.
Das Studentenpärchen,
das sich unter einem viel zu kleinen Schirm eng aneinander drückte, um nicht nass
zu werden – das sich sein Glück von dem Bindfadenregen nicht vermiesen ließ.
Oder die
Frau im eleganten weinroten Hosenanzug, die einen farblich passenden Trolley eilig
hinter sich herzog, und es gerade noch schaffte, die Stadtbahn zu erreichen.
Lindt stellte
sich vor, wie das Leben dieser Leute ablief. Wo kamen sie her, wo wollten sie hin?
Wie waren ihre Lebensumstände? Voller Sorgen oder voller Glück? Sonnenschein auch
bei Regen, oder Perspektivlosigkeit, selbst bei schönstem Wetter?
Welche Lebensaussichten
hatte Irene Stoll gehabt? Waren sie so düster gewesen, dass ihr nur dieser letzte
Ausweg geblieben war?
Oder stimmte
es, was ihr Neffe angedeutet hatte, und sie war diesen Weg nicht freiwillig gegangen?
Warum schwieg
Konstantin von Villing plötzlich so hartnäckig, seit er das leere Anwesen gesehen
hatte, obwohl er vorher aus eigenem Antrieb gekommen war, um eine Aussage zu machen?
Konnte man ihm überhaupt etwas glauben, oder litt er unter einer schweren psychischen
Störung? Ob ihn die alte Frau von gegenüber gekannt hatte?
Ja, Lindt
entschloss sich, aktiv zu werden. Es war Zeit, ihr endlich einen Besuch abzustatten.
»Der ist noch gar nicht so alt«,
berichtete Paul Wellmann, als sie in dem blauen Volvo saßen, der ihm als Dienstwagen
zugeteilt war, und Richtung Knielingen fuhren. »Eduard von Villing wurde 1942 geboren.«
Lindt war
erstaunt: »Was, erst 69? Dem hätte ich gut und gerne zehn Jahre mehr gegeben. Was
so ein weißer Bart doch ausmacht.«
Dann rechnete
er: »42, 52, 63, mit 21 Jahren schon ein eigenes Haus. Kann das überhaupt sein?«
»Als Spross
einer Stahldynastie ist das wahrscheinlich kein Problem. Ich wette, der hat nur
seine Volljährigkeit abgewartet, um sich von zu Hause zu lösen. Damals war er übrigens
Student. Hat hier an der Technischen Hochschule sein Diplom in Physik gemacht und
danach BWL draufgesattelt.«
»Das Stahlwerk
drüben in Wörth, wann wurde das denn gegründet?«
Auch hier
konnte Wellmann Auskunft geben. »Gebaut 1936 von seinem Vater, dem Ableger einer
Industriellenfamilie aus dem Ruhrgebiet. Der Großvater dieses Eduard wurde im Ersten
Weltkrieg vom Kaiser Wilhelm II. geadelt. Kriegswichtige Produktion – das war zu
dieser Zeit gar nicht mal so selten.«
»Also immer
vom Vater auf den Sohn übergegangen. Heutzutage wirklich selten, dass eine 2.000-Mann-Firma
als Familienbetrieb geführt wird.«
»Lass mich
mal weiterrechnen, Paul. Wann wurde Konstantin geboren?«
»1978. Sein
Vater war 36, als es mit dem Stammhalter endlich geklappt hat. Vier lange Jahre
nach der Hochzeit. Die Mutter war zwölf Jahre jünger.«
»Auch von
Adel?«
»Nein, Oskar,
kein blaues Blut. Luise, Geburtsname Ott, Arbeiterkind aus einem Heidelberger Stadtteil.«
»Gar nicht
standesgemäß. Vermutlich waren es ohnehin eher die weiblichen Reize, die ihn angezogen
haben, so jung wie sie bei der Hochzeit war.«
»Scharfsinnig
wie immer, der liebe Oskar«, meinte Paul Wellmann. »Mir ist dieser Gedanke natürlich
auch gleich gekommen.«
»Was haben
wir doch für einen Beruf, Paul. Wühlen in der Vergangenheit anderer Leute.«
»Wenn ich
da rüberschaue«, antwortete Wellmann, denn sie waren gerade am Ziel eingetroffen
und hielten gegenüber dem Sandsteinhaus, »denke ich eher an den Dreck anderer Leute.«
Emilie Barnsteiner brauchte zwei
Minuten, bis sie die Tür öffnete. »Ich hab’s Ihnen doch gesagt«, begrüßte sie Paul
Wellmann
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