Fänger, gefangen: Roman
andere Mädchen auf den Mond reagiert hat, muss ich ihr recht geben. Es ist der so gut wie perfekteste Abend, den ich je in meinem Leben erlebt habe.
»Hast du die Leseliste vom Sommer schon durch?«, fragt Meredith zwischen zwei Chips.
»M-hm.«
»Wie fandest du
Atlas wirft die Welt ab?«
Ich denke blitzschnell nach. Wenn ich jetzt wie der pseudointellektuelle Kaffeehaustyp rüberkomme – so Typen, denen Holden vorwirft, sie würden sich verstellen, nur um einem Mädchen zu imponieren –, kann ich alles verderben.
Meredith schlägt sich aufs Ohr. »Kamikaze-Mücke.« Sie kichert. »Du musst doch irgendeine Meinung haben.«
Ich unterdrücke meine Panik und sehe ihr direkt in die Augen, um zu zeigen, dass ich nicht deshalb zögere, weil ich keine Meinung hätte, sondern weil ich die richtigen Worte finden will. »Die Charaktere sind verdammt selbstsicher. Das ist nicht besonders realistisch. Ich meine, ich finde das nicht sehr glaubwürdig.«
»Aber ich kenne Leute, die sind ganz genau so. Das ist beängstigend.«
»Warum?«
»Wieso denken sie, dass sie im Recht sind?«, sagt Meredith. »Es gibt tonnenweise Sachen, die du nicht wissen kannst. Ich meine, du lebst nur dein eigenes Leben mit deiner eigenen Familie. In deiner Stadt. Du kannst nicht wissen, wie es ist, jemand anders zu sein, an einem anderen Ort. Aber wenn du trotzdem so tust, fühlen die anderen sich klein, unbedeutend. Das ist nicht fair.«
Wenn sie schon fünf Mal umgezogen ist und so empfindet – wer bin ich, dagegenzureden? Ich hab bisher nur in Essex County gelebt und kenne nichts als Farmer und Fischer. Man baut nicht viel Selbstvertrauen auf, wenn man gezwungenermaßen vom Wetter abhängig ist.
»Hast du es ganz gelesen?« Sie leckt sich Salsa von den Fingern und ich verliere den Faden.
»Atlas?«,
erinnert sie mich.
»Äh ... ich hab schon ein paar Sachen im Voraus gelesen.« Sobald ich es gesagt habe, merke ich, wie sich das nach Streber anhört. »Weil ich noch nicht genau weiß, wie mein Stundenplan im Herbst aussehen wird.«
»Wegen der ...«
»Leukämie. Du kannst es ruhig sagen. Es ist kein Geheimnis.«
»Mack sagt, du hast es gerade erst erfahren.«
»Vor zwei Monaten.«
»Dann machst du jetzt eine Chemo?«
Ich frage mich, wie viel sie über Chemotherapie weiß. Ob jemand Nahestehendes krebskrank ist, dass sie den Begriff so einfach parat hat. Vielleicht erklärt das, weshalb ihr Vater nicht bei ihnen lebt.
Daran müsst ihr euch gewöhnen. Meine Fantasie konnte ich schon immer schwer kontrollieren. Einmal, letztes Jahr, als ich was Wildes geschrieben hatte, das ein bisschen am Thema vorbeiging, meinte Stepford-Hanes, meine Fantasie würde mir später im Leben bestimmt zugutekommen. Als sie das sagte, fühlte ich mich nicht mehr so schlecht mit meiner Zwei minus, die sie mir wegen der Themaverfehlung gegeben hatte. Sie hatte nicht nur etwas Besonderes an mir erkannt, sondern mir auch klargemacht, dass das etwas wäre, auf das ich mich immer verlassen könnte. Meine Fantasie würde immer da sein. Und
später im Leben
impliziert, dass du eines Tages ein Erwachsener bist, der Bedeutendes tut, im Gegensatz zu einem Kind, das sich nur unwissend vorkommt und die ganze Zeit nur lernen muss. Ihr Kommentar fühlte sich auch deshalb so gut an, weil ich sonst kein solches Talent habe wie Nick oder Joe.
Seit die KRANKHEIT zugeschlagen hat, ist dieses Fantasieding allerdings mehr Ironie als sonst was. Von Stepford-Hanes weiß ich auch, was Ironie ist. Meine Gedanken gehen in die Zukunft, nur dass ich keine mehr habe.
Meredith hört auf zu essen und wartet auf meine Antwort, was wieder sehr für sie spricht.
»Meine Eltern prüfen alle Optionen.«
Da sagt sie: »So, wie Mack das beschrieben hat, viertes Stadium und alles, würde ich meinen, dass die Ärzte schnell reagieren wollen.«
»Na ja, meine Eltern sind sich nicht sicher wegen Chemo und Bestrahlung«, sage ich. »All die Gifte im Körper ... Sie kennen diese Heilpraktikerin, Miss T. Undertaker, und die sagt, es gibt weniger aggressive Methoden, den Krebs zu stoppen.«
»Sie sollte ihren Namen ändern.«
Ich lache laut auf. »Also, eigentlich heißt sie Underwood. Den Spitznamen hat sich Yowell ausgedacht.«
»Yowell?«
»Ein Junge aus der Schule, Leonard Yowell. Er ist auch in der Zehnten.«
Ich weiß nicht genau, warum ich ihn nicht als Freund bezeichne. Er ist klug, und das macht ihn ein bisschen arrogant, was nervt, da wir ein paar Sommer hintereinander im
Weitere Kostenlose Bücher