Fänger, gefangen: Roman
rübergelaufen?«
»Noch nie.«
»Es gibt für alles ein erstes Mal.« Sie springt auf und läuft los.
Meine Eltern haben mir erlaubt, bei Mack zu übernachten, unter der Voraussetzung, dass ich im Keller schlafe und keinesfalls in der Nähe seines kleinen Bruders. Nicht, dass Roger, der Hirni, krank wäre, aber er ist erst sieben. Kleine Kinder sind die reinsten Keimfabriken, und Mom will nicht, dass ich bei meiner leukämiebedingten Immunschwäche ein Risiko eingehe. Für den Fall, dass wir den Abend getrennt verbringen, haben wir vereinbart, dass Mack die Kellertür unverschlossen lässt. Die ganze Zeit, während Meredith und ich auf dem schmalen Gehweg laufen und die Autos von hinten an uns ranrauschen und vorbeiflitzen wie Vögel, die aus einem Tunnel fliehen, denke ich an später, wenn ich auf der Schlafcouch in Macks Keller liegen und für den ganzen Abend noch einmal Replay drücken werde. Er ist noch nicht mal vorbei, und trotzdem weiß ich jetzt schon, dass ich ihn mir irgendwie bewahren möchte.
Meredith zeigt auf Sterne und redet die ganze Zeit, sie ist wahrscheinlich auch nervös. Oder ehrlich fasziniert von Sternbildern. Sie schält sich aus ihrem Pullover und legt ihn über einen Arm. Vom Gehen warm geworden, schätze ich. Ich bin vollauf damit beschäftigt, die Knubbel ihrer Wirbelsäule und Schulterblätter zu analysieren, die man unter den schmalen Trägern gut erkennen kann. Diese leuchtend weißen Streifen auf ihren Schultern direkt vor mir lassen ihre Haut noch dunkler und exotischer wirken. Ich kann mich gerade noch davor zurückhalten, ihre Haut zu berühren, um zu sehen, ob sie so warm und glatt ist, wie sie aussieht.
Als wir zum höchsten Punkt der Brücke kommen, bleibt sie so abrupt stehen und dreht sich um, dass ich geradewegs in sie reinlaufe, weil sie sich schon umgedreht hat, bevor ich überhaupt merke, dass sie stehen bleibt.
»Oh, Mist, tut mir leid.« Was für ein Volltrottel. Ihre Brüste an meinem Oberkörper zu spüren, hat mich ganz aus der Fassung gebracht.
»Tutmirleid ist das egal«, erwidert sie, dreht sich seitwärts und streckt die Arme hoch. Dabei heben ihre Brüste das Oberteil gerade so weit an, dass ein Stück Bauch zu sehen ist. Der auch ganz glatt aussieht. Undbraun. »Es ist unglaublich hier draußen«, sagt sie. Dann schiebt sie ihre Zehen ein Stück über dem Boden durch die kleinen Öffnungen in der Betonwand und lehnt sich, die Brüstung unter sich, über die silbrigen Wellen. Sie winkt mit beiden Armen dem Fluss zu, der bestrichen ist mit Mondlicht und so glitzert, dass man sich nicht vorstellen kann, wie braun und schlammig er unter der glänzenden Oberfläche ist. »Fühl den Wind.«
Ohne ein Anzeichen von Angst oder gar Entsetzen, dass sie jetzt einen auf Kate Winslet machen könnte, stelle ich den Rucksack ab und imitiere sie, indem auch ich meine Füße in die Schlitze der Balustrade stecke. Meine Arme heben sich wie von selbst. Mein freier Wille existiert nicht mehr. Wenn sie mich jetzt bittet zu springen, werde ich es tun.
»Das Leben ist himmlisch«, ruft sie in den Wind.
Es ist fast so, als könnte man hören, wie ihre Worte flussabwärts brausen. Immer wieder.
»Sag es«, fordert sie mich auf.
»Das Leben ist himmlisch«, wiederhole ich und denke, wie viel bedeutsamer das doch ist als diese dummen Das-Leben-ist-schön-T-Shirts überall. »Das Leben ist himmlisch, himmlisch, himmlisch«, mache ich mein eigenes Echo. Als ich den Kopf zu Meredith drehe, beugt sie sich zu mir rüber und küsst mich.
Das ist der Teil, an den ich mich erinnern werde, wenn ich wieder auf dem Hausboot bin. Marissa Bennetts Bühnenküsse sind Geschichte. Ich weiß kaum mehr, wie sie aussah. Dieser eine salzige Salsakuss von Tutmirleid, einem Mädchen, das meine traurige Geschichte kennt und mich trotzdem mag. Er wiegt alles auf, was danach passiert.
Ich verliere das Gleichgewicht und taumele. Als ich mich zum Ausgleich nach hinten lehne, rutsche ich aus. Ich verliere mit einem Fuß den Halt und schlingere nach vorn. Meine Sandalen stecken hinter mir in der Betonbrücke fest.
Freier Fall bei Nacht ist irre. Es ist, als würdest du ohne Scheinwerfer in einen Tunnel fahren. Und du steckst wie in Zeitlupe fest, das Endedes Tunnels kommt nicht. Am höchsten Punkt der Brücke ist die Durchfahrtshöhe riesig, Frachtschiffhöhe, also hab ich jede Menge Zeit, mich vorzubereiten. Mein Unterricht für den Rettungsschwimmer fällt mir wieder ein, komplett mit den
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