Fänger, gefangen: Roman
marschierte immer weiter, ein Schritt nach dem anderen, und achtete nicht im Mindesten darauf, wohin ich ging. Ich erinnere mich nicht einmal, dass ich die Route 17 überquerte, aber das muss ich wohl getanhaben, weil ich schließlich etliche Blocks entfernt am Baseballfeld der Highschool landete. Es war vollkommen leer. Keine Autos, keine Menschen, nur die hohen Scheinwerfer, die wie Raumschiffe leuchteten. Die Mannschaft musste wenige Minuten, bevor ich eintraf, mit dem Spielen aufgehört haben. Ich setzte mich mitten aufs Spielfeld, hinter die zweite Base, und riss Grashalme aus dem Rasen, während langsam die Lichter ausgingen. Bis es zu dunkel wurde, um meine Finger oder das Gras zu sehen.
In jener Nacht war ich ein Splitter im Auge Gottes, ein winziger Splitter, wie einer dieser Millionen Grashalme, die ich gerade mitsamt ihren Wurzeln ausgerissen hatte. Er wusste nichts anderes mit dem Splitter anzufangen, als ihn herauszureiben. Gottverdammter Gott. Als es zu regnen anfing, dachte ich:
Er weint. Er hat gerieben und gerieben, und der Splitter, der Daniel Solstice Landon heißt, stört ihn noch immer. Also weint er mich raus.
Meine Eltern hatten einander. Joe war weg und lebte seinen Traum, und Nick hatte sein ganzes Leben noch vor sich. Gott wollte mich loswerden und leistete verdammt gute Arbeit. Es war die beschissenste Nacht meines Lebens.
Jetzt, sogar mit dem ätzenden verstauchten Knöchel, ist Meredith da, und ich hab Holden, der mir hilft herauszufinden, wie ich mit der Welt zurechtkommen soll. Vielleicht hab ich auf der Brücke ein bisschen übertrieben, als ich sagte, das Leben sei himmlisch, aber ich habe einen Entschluss gefasst. Ich werde mich nicht einfach von Ihm ausreiben oder -weinen lassen wie einen wertlosen Splitter. Ich werde mich mit Händen und Füßen dagegen wehren.
Da ich mich noch immer ein wenig bemitleide, entscheide ich mich dafür, Merediths Rat anzunehmen und darauf zu bestehen, dass meine Eltern mich zur Schule gehen lassen. Was wollen sie eigentlich? Selbst Gefangene, sogar Serienmörder bekommen einen letzten Wunscherfüllt.Warum also nicht auch Leute, deren Zellen vollkommen daneben sind? Ich spür schon die blöden Tränen hinter meinen Augen, als Nick vom Fußballtraining am ersten Schultag nach Hause kommt, die Arme voller Bücher. Er lädt sie auf der eingebauten Bank der vorderen Kabine ab. »Willkommen in der Zehnten«, sagt er mit diesem idiotischen Grinsen, als wär er der Osterhase.
»Wer hat dich gebeten, die alle mitzubringen?«
Er reißt eine Tüte Karotten auf – Karotten, also wirklich! – und schiebt sich ein paar in den Mund. Dann spricht er mit dem Mund voller Matsche. Ekelhaft.
»Mom natürlich. Wie willst du sonst mithalten?«
»Wozu?«
»Komm mir nicht auf die Tour. Du liebst Schule. Projekte für den Naturwissenschaftswettbewerb, Aufsatzwettbewerbe. Sieh dir doch bloß die ganzen Bücher an, mit denen du unsere Kabine zugemüllt hast. Und vergiss nicht, dass du letztes Jahr den Plato-Club gegründet hast. Du bist ein Streber.«
Was soll man dazu sagen? Kaum zu glauben, dass wir die gleichen Gene haben.
»Du bist adoptiert«, sage ich.
Aber er ist noch nicht fertig. »Von einer Brücke zu springen, macht dich noch nicht zum Sportchamp.«
»Ich will kein Sportchamp sein«, sage ich. »Ich würde nur gerne wissen, dass ich noch mal von einer Brücke springen könnte, wenn ich es wollte. Oder dass ich meinen Büchereiausweis nächstes Jahr noch gebrauchen kann.«
Er nimmt einen doppelten Schluck aus seiner Wasserflasche. »Schön, mach doch ’nen Jump von jeder Brücke, die du willst. Keiner wird dich stoppen. Ich wollte ja nur helfen.«
Holden hätte Nick gesagt, er solle die Klappe halten und gehen, wie er es bei Ackley gemacht hat, dem nervigen Typen aus dem Nachbarzimmer des Wohnheims.
Gib mir meinen verdammten Kamm zurück.
Oder er wäre selbst abgehauen und hätte Nick vor sich hin brüten lassen. Ich kann keins von beidem tun, weil Mom vom Ufer aus hupt und Nick das kleine Boot nehmen und sie abholen muss. Mein Knöchel pocht wie Hölle, und von einem Hausboot kann man nicht einfach so abhauen.
Wenn ich mich vorbeuge, komme ich gerade eben an den Bücherstapel ran, ohne aufstehen zu müssen. Obenauf liegt Bio. Es ist schwerer als jedes andere Schulbuch, das ich bisher hatte, und voller Diagramme und Fotos. Ich suche Dads Namen in der Titelei, aber er steht nicht drin. In der Mitte ist ein Abschnitt mit bunt bedruckten durchsichtigen
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