Fänger, gefangen: Roman
Plastikseiten, auf denen hintereinander die verschiedenen Systeme des menschlichen Körpers abgebildet sind. Die Muskeln gibt’s in der ersten Illustration, die ich mir ansehe, und da sind sie, über die verschiedenen Sprunggelenkteile gespannt, diese höllisch kleinen blutroten Bänder, die mich lahmgelegt haben, bevor ich bereit bin, den Geist aufzugeben. Ich vergebe Nick. Er ist nur der Bote.
Das Inhaltsverzeichnis listet fünfundzwanzig Kapitel einschließlich »Das Immunsystem« auf. Ich lese mich fest.
7
In der dritten Schulwoche kommt ein Brief von der Schulbehörde von Essex County an meine Eltern. Ich musste die Post aus unserem Postfach holen, weil Mom in letzter Sekunde nicht mehr reingehen wollte. Sie meidet diese Hexe von Apothekerin, die ihr mal gesagt hat, Miss T. Undertaker sei eine Quacksalberin. Auf einem Umschlag in dem ganzen Stapel bemerke ich das goldene Siegel unserer Bezirksregierung. Ich denke mir, dass meine Eltern wohl irgendeine besondere Unterrichtsbefreiung für mich beantragt haben. In diesem Brief könnte die Entscheidung der Behörde über meinen Schulbesuch stehen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie uns mitteilen, sie hätten Geld für einen Privatlehrer organisiert oder die alternative Behandlungsmethode in Timbuktu, wo ich hinsoll, da Mom sie als
die
Form der Rettung ihres kranken Sohnes auserwählt hat.
Der ungeöffnete Brief liegt auf der Küchentheke, bis Dad nach Hause kommt. Mom hat ihn bestimmt sechs oder sieben Mal in die Hand genommen und wieder hingelegt. Als Dad aus der Bücherei zurückkommt, wo er über deren Internetanschluss die frisch lektorierten Kapitel des neuesten Schulbuchmanuskripts weggeschickt hat, ist Mom ungewöhnlich aufgeregt. Sie hält ihm den Brief vors Gesicht, als müsste er wissen, was drinsteht und was sie darüber denkt. Als er ihn nicht nimmt, reißt sie ihn auf und hält das Schreiben beim Lesen von sich gestreckt wie ein mittelalterlicher Bote des Königs. Es ist eine Weile still – vielleicht liest sie ein zweites Mal –, dann sieht Dad ihr über die Schulter.
»Vorladung«, sagt sie so laut, dass er einen Schritt zurückweicht. »Die Schulbehörde lädt Mr und Mrs Stieg Landon zu einer amtlichenBesprechung vor. Was zum Teufel glauben die, wer sie sind, dass sie Eltern herumkommandieren können? Wir zahlen Steuern wie jeder andere auch. Ich gehe nirgendwo hin.«
Sie liest den Brief von Anfang an vor, und ihre Stimme wird immer lauter. Diese ganze offizielle Behördensprache. »Betreff: Daniel Solstice Landons Schulabsenz von der zehnten Klasse.« Mit einer Liste von Daten. »Unter Verstoß gegen« mit einer weiteren Liste von Zahlen, Gesetzen, Bestimmungen, was auch immer.
»Haben die mich auch vorgeladen?«, will ich wissen.
»Nein.« Moms entsetzter Blick ist klassisch. Sie mustert mich unendlich lange, als wäre sie nicht sicher, wer ich bin.
Dad nimmt ihr den Brief aus der Hand und setzt sich. Er streicht das Papier auf dem Tisch glatt und betrachtet es so konzentriert wie seine Arbeit.
Für mich ist die Lösung ganz einfach. »Ich komme mit euch.«
Mom unterbricht ihr Herumwandern gerade so lange, um Dad einen scharfen Blick zuzuwerfen. Ihre Stimme klingt erstickt vor Empörung. »Die allmächtige Schulbehörde empfiehlt, dass wir ohne den genannten Schüler erscheinen, um offen über den Sachverhalt sprechen zu können.«
Als hätte ich ADHS und wäre unfähig, länger als fünf Minuten stillzusitzen.
»Sie können ihn nicht zwingen, zur Schule zu gehen, wenn ihn das noch kränker macht«, fährt sie, ihre Worte an Dad gerichtet, fort. Hört er ihr überhaupt zu? Offensichtlich hat sie schon entschieden, den Brief zu ignorieren und die Vorladung zu schwänzen. »Das ist bestimmt .... verfassungwidrig.«
»Sylvie. Was redest du denn?«, sagt Dad. »Was hat die Verfassung mit alternativen Heilmethoden zu tun? Du machst eine viel zu große Sache daraus. Das ist eine Routineangelegenheit. Sie haben festgestellt, dass irgendein Kind auf ihrer Liste fehlt, und folgen bloß dem Protokoll. Vierzig, fünfzig Familien bekommen genau diesenBrief. Die Schulbehörde weiß wahrscheinlich gar nichts von Daniels Leukämie.«
»Sie stecken ihre Nase in unsere Angelegenheiten«, sagt Mom. »Alle glauben, sie wüssten, was zu tun ist, aber keiner von denen muss sich tatsächlich mit der Realität auseinandersetzen. Heutzutage hält sich jeder für einen verdammten Experten.«
Ein paar Stunden vorher an diesem Tag hatte Dad ihr gestanden,
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