Fahrt ohne Ende
Kaplan gegenüber. Draußen herrschte das Zwielicht eines im Abenddunkel versinkenden Herbsttages. Im Zimmer brannte nur die kleine Schreibtischlampe. Alf warf einen Blick zu den langen Bücherreihen an der Wand und sagte langsam:
»Ja, das ist alles sehr schwierig. Und restlos lösen oder beantworten können wir Menschen so vieles nicht. In Wirklichkeit gibt es auf Erden wohl nur eine Heimat für uns Menschen, Ihre Kirche, Hochwürden. Sie kann dem Menschen Heimat sein, weil sie ihn nach drüben weist. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen...«
»Doch, Alf, ich weiß, was du meinst. ,Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh mit mancherlei Beschwerden der ewgen Heimat zu.‘ Ja, so ist das wohl. Aber weshalb sagtest du nicht .unsere Heimat‘? Denn es ist ja doch jetzt schon auch deine Heimat...«
»Noch nicht, Herr Kaplan. Aber ich wünschte, sie würde es einmal. Denn jetzt ist es ja doch so, daß wir uns entscheiden müssen. Und irgendwie war das, was wir bisher getan haben, doch eine halbe Sache...«
Der Kaplan lächelte.
»Ich glaube nicht, daß die Gestapo sagen würde, deine bisherige Arbeit wäre eine Halbheit, wenn sie Bescheid wüßte.«
Da lachte auch Alf:
»Da mögen Sie recht haben. Und so war es ja auch nicht gemeint. Wenn ich‘s noch einmal zu tun hätte, ich würde ohne Besinnen wieder die illegale Jungenschaft wählen, würde auch die Gruppe wieder genau so bauen, wie ich‘s getan habe... Aber wir, die wir nicht in der ,Heimat‘ aufgewachsen sind, wir stehen einmal alle dort, wo wir uns — jeder für sich allein — endgültig entscheiden müssen. Freilich, es ist schon viel, daß wir überhaupt dorthin gelangen, mancher kommt nie dorthin, auch mancher von denen nicht, die es eigentlich doch leichter haben als wir, die von Haus aus gezeigt bekommen, welchen Weg sie gehen können.«
»Das ist — leider — wahr, Alf. Und es sind nicht nur manche, es sind sogar viele, die sich nie entscheiden, innerlich wenigstens nicht.«
»Ja, sehen Sie, Hochwürden, für mich ist es klar, was ich zu tun habe. Ich werde in ein paar Tagen die Heimat verlassen haben. Ich werde nicht als Soldat dienen, einem System dienen, das ich nie bejaht habe, gegen das ich seit Jahren gekämpft habe und das die besten meiner Kameraden ins KZ. gesteckt, verjagt, oder — umgebracht hat. Ich.— kann es einfach nicht, ich kann nicht für eine Sache die Waffe in die Hand nehmen, die niemals meine Sache sein kann. Glauben Sie mir, ich gehe nicht gern weg aus diesem Land. Gerade jetzt nicht. Es ist nicht leicht, in diesem Augenblick meine Horte allein zu lassen. Nur — ich weiß ja, daß meine Jungen verstehen, warum ich fortgehe. Und ich glaube, daß sie selbst — wenn es einmal so weit ist — auch nicht ausweichen werden. Aber manchmal beneide ich doch Jürgen und seine Jungen, denn die können auch später zusammen ihren Weg gehn. Ich kann meine Jungen nur so weit bringen, daß sie sich entscheiden, das Weitere...«
»Das Weitere ist nicht nur ihre, sondern auch Gottes Sache, Alf. Denn wenn wir‘s nur recht machen, dann führen schließlich doch alle Wege nach Haus, übrigens, ich glaub‘, ich kann dir versprechen, daß ich mich auch ein wenig um deine Jungen kümmern werde, wenn du fort bist.«
»Ich wäre Ihnen dankbar«, Alf erhob sich, »und jetzt ist es Zeit, mich von Ihnen zu verabschieden, Hochwürden. Ich muß nämlich noch die Karte der Schweiz eingehend studieren!«
»Ja dann, — Alf, mach‘s gut. Und ich wünsch‘ dir, daß du eines Tages heil wieder hier bist — und daß du die andere Heimat findest, sie ganz findest!«
* * *
Alf halte einen Einberufungsbescheid zum Heer für den 6. des Monats. Am Morgen des 5. bekam er eine Vorladung zur Gestapo. Alf schaute mit Bedauern zu seinem gepackten Rucksack hinüber — die Karten der Schweiz und Westeuropas waren darin gut verstaut —, dann sah er noch einmal auf die Vorladung: eine halbe Stunde später mußte er auf der Gestapodienststelle sein. Bis dahin konnte er noch nicht fort sein, also mußte er sich dem Verhör stellen. Er machte sich auf den Weg zum Polizeipräsidium.
»Zimmer 65?«
»Im zweiten Stock, den rechten Flur hinunter. Hier, der Passierschein.«
Alf stieg die Treppe hoch. Die Beamten, die an ihm vorbeigingen, waren so kühl und lautlos wie der ganze Bau. Da, Zimmer 65.
»Guten Morgen, meine Herren. Hier ist meine Vorladung. Bitte, ich stehe Ihnen zur Verfügung!«
Der Mann vor dem Schreibtisch erhob sich:
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