Fahrt zur Hölle
Beleidigung für alle traditionsbewussten Lübecker war.
»Hürlimann hat die Matur …«
»Matura«, korrigierte Lüder.
»So nennen es die Ösis. In der Schweiz heißt es Matur. Nach der Matur hat er ein Studium in Zürich begonnen, aber offensichtlich nicht abgeschlossen.«
»Was heißt das?«
»Was auch immer … Ich weiß es nicht. Es war irgendetwas Technisches an der Eidgenössischen Technischen Hochschule.«
»In welchem Fach?«
»Keine Ahnung«, gestand Große Jäger. »Er hat sich danach als Mitarbeiter bei ›Blick‹ und ›Der Bund‹ versucht. Das sind zwei angesehene Schweizer Zeitungen.«
»Nun ja«, relativierte Lüder. »Wohl eher Boulevardzeitungen.«
»Hürlimann hat sich auf Auslandsberichte konzentriert. Ich habe im Archiv ein paar Artikel von ihm nachgelesen. Nichts Spektakuläres, aber fundiert und sauber. So erschien es mir jedenfalls. Irgendwann ist er von der Bildfläche verschwunden. Ich habe keine Informationen finden können, wo er sich aufgehalten hat. Später tauchte er in Simbabwe auf, bis man ihn dort hinausgeworfen hat. Seit drei Jahren treibt er sich in Somalia herum.«
»Was macht er da? Wovon lebt er?«
»Das ist alles nebulös. Ich habe leider keine weiteren Informationen vorliegen, weder positive noch negative.«
»Hat er Dreck am Stecken?«
»Falls ja, ist es uns nicht bekannt. Jedenfalls scheint er kein Durchschnittsbürger zu sein.«
»Verheiratet? Familie?«
»Ich nicht wissen«, radebrechte Große Jäger.
Lüder gab Große Jäger die Rufnummer des Satellitentelefons. »Ich bitte dich, diskret ein Auge auf meine Aktion zu werfen, soweit es dir möglich ist.«
»Ich pass auf Sie auf«, sagte Große Jäger, und seine Stimme klang ein wenig belegt. »So gut es geht. Und wenn auch nur aus der Ferne. Machen Sie’s gut. Und … Seien Sie vorsichtig und kommen Sie gesund und heil zurück.«
»Danke«, sagte Lüder und meinte es ehrlich. Er wusste, dass sein Husumer Freund im Rahmen seiner Möglichkeiten Lüders Mission verfolgen würde.
FÜNF
Lüder hatte unruhig geschlafen – die zweite Nacht in Folge. Ermittler, die sich unbefangen ins Bett legen und ungeachtet größerer Fragen und Probleme im aktuellen Fall eine tiefe und erholsame Nachtruhe finden, gab es anscheinend nur im Film. Aber Schlaflosigkeit vor großen Aufgaben war sicher nicht auf Polizisten beschränkt. Dieses Phänomen betraf Menschen in anderen Berufen ebenso.
Sebastian Herzog erschien so zeitig, dass er Lüder im Frühstücksraum antraf. Der Botschaftsreferent trank einen Kaffee mit, half Lüder, das Gepäck im BMW zu verstauen, und fuhr in Richtung des zweiten großen Flughafens der kenianischen Hauptstadt. Auf der Gegenfahrbahn standen die Autos auf dem Weg in die City in mehreren Reihen. Lüder schien es, als würde sich die Schlange keinen Zentimeter bewegen und als müssten die Fahrzeuge morgen zur gleichen Zeit immer noch an derselben Stelle stehen. Die Straße führte durch einen mitten im Stadtzentrum gelegenen Golfplatz hindurch und am Hauptbahnhof entlang. Die Eisenbahnstation wirkte noch heute wie ein Relikt aus der Kolonialzeit. Museal anmutende Züge, denen man nicht zutraute, dass sie es bis zur Stadtgrenze schaffen würden, und mit Säulen bestückte Bahnsteige nährten die Illusion, sogleich würde Humphrey Bogart in einer Szene auftauchen.
Herzog kannte sich in Nairobi aus. Gekonnt umrundete er den Bunyala Roundabout und fand eine Lücke in der dicht an dicht stehenden Schlange auf der Gegenfahrbahn. Mit einer Gelassenheit, als hätte er hier seine ersten Fahrstunden absolviert, hupte sich der Botschaftsmitarbeiter den Weg frei.
Der Weg führte am Nationalstadion vorbei, das mit seinem rot-weißen Anstrich eher einer Zirkusarena glich. Es galt, noch ein paar Kreisverkehre zu überwinden, bis sie den Flughafen erreicht hatten.
Herzog setzte Lüder vor dem Empfangsgebäude ab, holte das Gepäck aus dem Kofferraum und öffnete den Mund, als wollte er einen weiteren Versuch starten, Lüder von seinem Vorhaben abzuhalten. Doch dann winkte er nur resigniert ab, drückte Lüder kräftig die Hand und sagte: »Viel Glück. Kommen Sie gesund wieder.«
Ohne Lüders Antwort abzuwarten, kehrte Herzog zu seinem Wagen zurück und fuhr davon.
Lüder hatte einige Mühe, sich in dem Tohuwabohu zurechtzufinden. Das Durcheinander erinnerte ihn an die Enge auf einem orientalischen Basar. Mit einigen Schwierigkeiten entdeckte er den Counter, checkte ein und fand sich in einem Warteraum
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