Fahrt zur Hölle
also fremd in den Ohren der Einheimischen, ist er in der Achtung der Mitbürger raketengleich gestiegen. Kennen Sie den Song ›A Boy Named Sue‹ von Johnny Cash? Da sucht jemand seinen Vater, weil der ihm, bevor er sich aus dem Staub machte, einen Mädchennamen gegeben hat. ›Sue‹ wurde gehänselt und musste sich durchprügeln. Als er schließlich seinen gebrechlichen Vater fand und ihm Vorwürfe machte, erklärte dieser, dass der Name ›Sue‹ das Einzige war, was er seinem Sohn mitgeben konnte, und dank dieses Namens hätte der Sohn gelernt, sich zu behaupten. So ist es mit Dieter.«
Hürlimann legte dem Jungen seine fleischige Hand auf den Rücken und ließ sie langsam bis zum Gesäß weitergleiten. Dabei sah er Lüder an und registrierte dessen Reaktion.
Lüder empfand es als ekelerregend. Nach europäischem Recht und Moral war das Unzucht mit Kindern. Und ›Dieter‹ musste auch noch froh und dankbar dafür sein, da ihm außerhalb der Mauern dieses Anwesens vermutlich noch Schlimmeres widerfahren wäre.
»Ich will Ihnen alle Annehmlichkeiten bieten, die mir möglich sind«, sagte Hürlimann. »Nur auf Frauen müssen Sie verzichten. Das ist in diesen Kulturkreisen tabu. Sicher haben Sie sich gewundert, dass es keine Stewardessen an Bord Ihres Flugzeugs gab. Das entspricht dem hiesigen Verständnis von Frauen.«
»Aber die arabische Fluggesellschaft Emirates hat doch auch welche?«, warf Lüder ein.
»Wir sind hier in Somalia. Da ist vieles anders«, sagte Hürlimann. »Jetzt beziehen Sie Ihre Unterkunft. Wir setzen unser Gespräch beim Abendessen fort.«
Das Zimmer, in das ihn Dieter führte, entsprach dem, was Lüder bisher von diesem Haus gesehen hatte. Ein Himmelbett beherrschte den Raum. Wer mochte dort geträumt haben? Die Tochter des Hauses? Die Konkubine des Hausherrn? Er öffnete die Schubladen. Sie waren leer. Wenn auch vieles auf eine überstürzte Flucht der ehemaligen Besitzer wies, so hatten sie doch Zeit gefunden, ihre persönliche Habe mitzunehmen.
Lüder verschloss die Tür, für die es nur einen einfachen Buntbartschlüssel gab. Das Schloss ließ sich mit einer Büroklammer öffnen. Um vor Überraschungen gefeit zu sein, stellte er ein Glas auf die Türklinke. Dann suchte er das Bad auf. Auch hier fand sich Marmor, allerdings ohne Bruchstellen, wenn man davon absah, dass irgendjemand Teile der Ausstattung hatte gebrauchen können. Davon zeugten Dübellöcher in der Wand.
Zunächst rief Lüder Walter Rukcza an.
»Haben Sie neue Erkenntnisse gewinnen können?«, überfiel ihn der Staatsminister.
»Sie haben mich mit unzureichenden Informationen in eine fremde Welt gehetzt«, erwiderte Lüder.
»Mein Gott. Wir brauchen Ergebnisse. Wie lange soll das noch dauern?«
»Sie könnten ja herkommen und mir zur Hand gehen. Lassen Sie Ihre Kontakte spielen. An wen darf ich mich in Mogadischu wenden und mich dabei auf die Bundesregierung beziehen?«
Es herrschte Stille in der Leitung.
»Hallo?«, fragte Lüder nach einer Weile. »Kuckuck?«
»Ja. Sie wissen, dass es keine diplomatischen Kontakte nach Somalia gibt.«
»Und informelle? Was sagt der BND dazu? Sprechen Sie mit de Buur. Schließlich haben Sie einen Vertreter des Nachrichtendienstes in Ihrem Gremium.«
»So geht das nicht«, beschwerte sich Rukcza.
»Na endlich sind wir einer Meinung. Gibt es inzwischen eine Forderung seitens der Entführer?«
»Nein.« Die Antwort kam zögerlich.
»Dann liegt die Vermutung nahe, dass die Piraten an der Ladung interessiert sind. Warum gibt es keine Auskünfte dazu?«
»Die haben Sie erhalten«, warf Rukcza ein. »Die Reederei hat sich dazu geäußert.«
»Ich glaube Ihnen nicht. Ich bin ein skeptischer Beamter. Wenn ich meine Steuererklärung abgebe, muss ich für jede Zahl einen Nachweis erbringen. Und da geht es um die berühmten Peanuts. Davon können wir im Fall der ›Holstenexpress‹ nicht sprechen.«
»Herr Lüders«, antwortete Rukcza in einem fast beschwörenden Ton. »Verrennen Sie sich nicht. Sie sind auf dem Holzweg. Die Bundesregierung möchte wissen, welche kriminellen Elemente hinter der Entführung stecken. Deshalb hat man auch einen Beamten einer Landespolizei als Ermittler eingesetzt. Wenn wir einen politischen Hintergrund vermuten würden, stünden uns andere Möglichkeiten offen. Das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestages sitzt der Regierung im Nacken. Auch wenn über diese Dinge nicht öffentlich diskutiert wird, gibt es im inneren Zirkel genügend
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