Fahrt zur Hölle
Norden – er orientierte sich am Stand der untergehenden Sonne – zeigte sich in der Ferne die Silhouette schroffer Berge; Felsungetüme, die nicht vergleichbar mit der vertrauten Kalenderschönheit der Alpen waren.
In diesen Breitengraden gab es nur eine kurze Dämmerung im Unterschied zur langen Phase, die der Tag im heimatlichen Schleswig-Holstein benötigte, um sich zu verabschieden. Und Tag und Nacht waren annähernd gleich. Da sie nördlich des Äquators waren, musste es etwa gegen achtzehn Uhr sein, überlegte Lüder. Dann war er schon neun Stunden in der Gewalt der Entführer.
Man bedeutete ihm, wieder auf den Pick-up zu klettern. Die Männer verzichteten darauf, ihm die Haube über den Kopf zu ziehen und ihn an dem Gestell des Maschinengewehrs festzubinden. Er konnte sich auf der Ladefläche selbst einen Platz suchen, als sie sich wieder in Bewegung setzten.
Kurz darauf war es stockfinster. Es war nichts mehr zu sehen. Der Fahrer musste dennoch den Weg kennen. Traumwandlerisch lenkte er den Toyota über die immer schlechter werdende Sandpiste. Sie durchquerten ein Wadi, schlängelten sich über Serpentinen, ohne im Gebirge zu sein, und erreichten nach einer schier endlosen und qualvollen Fahrt schließlich ihr Ziel.
Gierig sog Lüder die klare frische Luft ein. Er roch das Meer. Der Indische Ozean. Eine sanfte Brise streichelte ihn. Sie waren an einem Ort angekommen, der aus lauter armselig wirkenden Hütten bestand. Nur aus wenigen drang noch Licht. Das ganze Dorf schien zu schlafen. In seiner Trostlosigkeit wirkte es friedlich.
Man hatte ihn an die Küste gebracht. Sollte das bedeuten, dass die Entführer nicht gewöhnliche Kriminelle waren, sondern in Verbindung mit den Piraten standen? Dem Gefühl nach waren sie auch lange Richtung Norden gefahren. Demnach befanden sie sich nicht in Eyl oder einer der anderen Piratenhochburgen. Es musste das Ende der Welt sein, dort, wo die »Holstenexpress« ankerte. Lüder war sich sicher, in Hordio zu sein, unweit des Horns von Afrika.
Wenn es schon nach Mitternacht war, war der Sonnabend hereingebrochen. Heute wollte er mit der Familie in den Sommerurlaub nach Schweden aufbrechen. Und mittags wollte er sich bei Große Jäger gemeldet haben. Ob der Husumer schon mit Kriminaldirektor Nathusius gesprochen hatte? Fragen, auf die Lüder keine Antwort erhalten würde.
Einer der Entführer winkte ihm, den Pick-up zu verlassen und ihm in eine Hütte zu folgen. Lüder war erstaunt. Hinter der heruntergekommenen Fassade zeigte sich eine andere Welt. Die Einrichtung wirkte orientalisch, er sah Schnörkel an den Möbeln. Es sah plüschig aus. Das alles wurde durch eine trübe Funzel an der Decke erleuchtet. Nicht erwartet hatte Lüder den modernen Großfernseher und eine Batterie von Computern.
Ein schlanker Mann saß vor einem der Bildschirme. Er sah den Ankömmlingen entgegen, erhob sich, kam auf Lüder zu und streckte ihm die Hand entgegen.
»Ah, Herr Wolfram«, sagte er auf Deutsch. »Es ist sicher unangebracht, wenn ich Sie willkommen heiße. Andererseits – warum nicht. Sie haben sich von Nairobi bis hierher durchgefragt.«
»Die Art und Weise des Empfangs veranlasst mich nicht, Ihren Gruß in angemessener Weise zu erwidern«, sagte Lüder.
Der Mann schüttelte amüsiert den Kopf.
»Aber, aber«, sagte er.
Er trug die Galabija, was Lüder überraschte. Dieses Gewand trugen Männer heutzutage hauptsächlich in ländlichen Gegenden westlich des Nils.
»Sind Sie Ägypter?«, fragte Lüder.
»Ich? Aus Ägypten?« Für einen Moment war der Mann erstaunt. »Ach so«, sagte er. »Deshalb.«
Dabei hob er mit spitzen Fingern ein wenig den Stoff seines langen hemdartigen Gewandes mit den weiten Ärmeln an. Es war traditionell mit weitem Rockteil und Brustschlitz geschnitten. Der Kragen fehlte. Wie die berühmte Frage nach dem, was die Schotten unterm Kilt tragen, war die Frage in diesem Fall praktisch zu beantworten. Es ging westlich zu mit Unterhemd und Boxershorts, bei Kälte durfte es auch ein Pullover sein.
»Wo sind wir hier? In Hordio?«
»Kennen Sie sich aus am Horn von Afrika? Übrigens … Ich stamme aus Somalia. Ich trage die Galabija nicht nur aus Tradition, sondern weil es bequem ist. Warum ich Deutsch spreche, werden Sie als Nächstes fragen? Ich habe an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel Biological Oceanography bis zum Master studiert.«
»Ist Entführung ein Studienschwerpunkt gewesen?«
»Vielleicht haben wir Gelegenheit, ein wenig
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