Faktor, Jan
an den einzelnen Zehen und Fußsohlen - unterhielt
sich allerdings mit allen Damen auf einmal. Wenn wir auf der Flucht vor dem
ledernen Gestapomann waren, mußten wir aufpassen, nicht über die Damenbeine zu
stolpern oder in die seitlich abgestellten Schüsseln zu treten.Das Tempo der
kommenden Zerstörung war für sozialistische Verhältnisse enorm. In kürzester
Zeit wurden ganze Häuserreihen entmietet, etliche meiner Mitschüler mußten auch
die Schule wechseln und verschwanden unwiederbringlich in irgendwelchen
grausigen Siedlungen am Stadtrand. Dann kamen die Abrißbirnen angewackelt und
die Bagger angestunken. Manche dieser Fahrzeuge prahlten schamlos mit einem
großen Schriftzug - dem sprechenden Namen ihrer Firma: Volkseigener Betrieb
DEMOLICE. Das Spezialgerät wie die Abrißbirnen kam von der Firma DE-STRUKTA.
Die Demolierung hatte noch etwas Aufregendes an sich, und wir sahen sogar ein,
daß auch die zurückgesetzten modernen Prachthäuser für die neue Verkehrsader
nicht weit genug zurückgesetzt worden waren. Und man konnte sich aus einem
Grund sogar freuen: Endlich würde auch Schluß sein mit den unschönen Szenen bei
den alljährlichen Militärparaden am 9. Mai. In der Engstelle kam es immer zu
gewissen Quetschungen der sonst tadellosen soldatischen Marschblocks. Die neue
Zeit sollte nach Prag 6 einfach Tag für Tag problemlos und vielspurig angerollt
kommen - egal ob auf Lastautos, in dicken sowjetischen Wolgas oder
durchgeschüttelt in den Zweitaktern aus der DDR. Prag 6 sollte für die
ankommenden Gäste, bevor sie in der Enge der Innenstadt steckenblieben, etwas
von der Monumentalität einer Großstadt vermitteln. Großzügig breite Straßen
waren in Prag tatsächlich Mangelware.
Der böse
Schock kam, als nach dem Abriß die sonst verborgenen und öffentlichkeitsscheuen
Häuserrückseiten zum Vorschein kamen - also die Hoffassaden der
boulevardabgewandten Häuserzeilen, die stehengeblieben waren. Diese Fassaden
waren nie dazu bestimmt gewesen, innenhof-fremden Blicken ausgesetzt zu werden.
Auch als diese Fassaden noch neu waren, mußten sie nicht sonderlich
repräsentieren, sie sollten nur einigermaßen funktional sein, mehr nicht; jetzt
waren sie zu allem Unglück noch unvorstellbar dreckig. Wir schämten uns
plötzlich für ihre Nacktheit, schämten uns gemeinschaftlich, schämten uns wie
der Großteil der noch nicht ganz abgestumpften Erwachsenen von Prag 6. Diese
Scham schien sich außerdem unabhängig davon zu entfalten, wie stark man sich
mit den verbliebenen Häusern und ihren Bewohnern verbunden fühlte. Und man
begriff, wie geheim es war, daß diese zerschundenen Häuserrücken so
unansehnlich waren. Der immaterielle Part des aktuellen verkehrsplanerischen
Angriffs - hinterrücks auf dem Umweg über die Ästhetik - war besonders
empörend. Hier kämpften nicht ehrlich und frontal bemannte Bagger gegen
unbemannte Häuser oder umgekehrt, hier wurden einfach entblößte Schamteile der
verletzbaren Stadtseele jedem hergelaufenen Spießer zum Drauftreten vorgesetzt.
Die
Unterwäsche auf den Leinen flatterte plötzlich ungeschützt vor Spannern jedes
Geladenheitsgrades, die verschönerten oder umfunktionierten Balkone unter
zerfetzten Markisen waren den Kommentaren aller bastelwütigen Besserwisser
ausgesetzt. Andersfarbig angepinselte Fensterumrandungen klagten sich selbst an
- denunzierten sich im Grunde als konzeptionslose und egoistische Übergriffe.
Zusätzlich weinten viele der entsprechenden Fensterbänke links und recht wie
aus wimperlosen Augenwinkeln, weil die modernen sozialistischen Wandfarben
nicht wirklich wasserfest waren. Wir hätten mit den beschämten Fenstern gern
gemeinsam geheult. Der Hauptgrund unserer Trauer war aber ein anderer - alle
unsere Hof-Verstecke, in denen wir uns vor brisanten Konflikten oder nach
erfolgten Angriffen sammeln konnten, waren nichts mehr wert, alle unsere
Fluchtwege waren für jedermann einsehbar und lagen wie auf einem
Präsentierteller.
Infolge
der Verbreiterung der Chaussee ging naturgemäß das ganze dortige Leben
zugrunde, und weil der Publikumsverkehr ausblieb, verschwanden aus den
umliegenden Straßen nach und nach auch andere wichtige Geschäfte. In den
verlassenen Ladenräumen wurden daraufhin Verkaufsstellen für betrieblichen
Spezialbedarf untergebracht. Man konnte sich - täglich, wenn man wollte - unförmige
Dichtungen für irgendwelche Grubenpumpen besorgen oder passende Tresore
bestellen. In dem Geschäft für Tresore standen zu
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