Faktor, Jan
Schnittpunkt steht
dann der alte, frisch aus der Eierschale geschlüpfte Baum. Er war von Anfang an
vollkommen ... wie die jungen Blätter, über die wir neulich gesprochen haben.
Weißt du noch? Dort, wo man hinstrebt, ist schon alles fertig. Man muß immer
nur das Sterben neu gestalten. Weißt du, was ich meine, Georg?
- Ja,
ungefähr.
- Ich habe
in der letzten Zeit auch viel über das Sprechen nachgedacht, über das in der
Stimme steckende Vermögen, Nuancen auszudrücken. Hier höre ich manchmal
tagelang nur dieses Kreischen, Klappern oder Quieken. Du hast neulich in Prag
Gitarre geübt und gesungen. Hier wäre das deplaziert - das Landleben läßt es im
Grunde nicht zu, es wäre Verschmutzung. Diese Art von Rhythmus oder
Takteinteilung produziert die Natur von sich aus nicht - zum Glück, aber aus
gutem Grund, denke ich. Sie braucht es einfach nicht, und so soll es auch
bleiben. Das Atmen und der Herzschlag sind eher dazu da, nicht wahrgenommen zu
werden, oder? Aber die Stimmen - die sind gefährlich, sie sind einerseits
Ausstoß, andererseits eine potentielle und wie unter Zwang entgegenzunehmende
Penetration. In das Taktmaß und in Resonanzgefäße eingezwängte Stimmen kommen
bei mir regelmäßig als Schmerz an. Deswegen vertrage ich hier kein Radio.
Vibrationen haben immer mit dem Überschreiten von irgendwelchen Schwellen zu
tun. Diese federn sich gern eigenmächtig ab, bäumen sich auf, liegen eine Weile
scheinbar ruhig auf dem Boden, richten sich aber plötzlich wieder auf -
womöglich sogar kerzengerade. Es ist eine Illusion zu denken, man schreite
voran, indem man irgendwelche Stufen überwindet. Bei der Fortbewegung - dem
FortSCHRITT sozusagen - kommt es höchstens darauf an, nicht mit den eigentlich
störenden Strömungen in Konflikt zu kommen. Ich kann keine Uhr tragen, sonst
hätte ich nie eine klare Linie zeichnen oder eine Rundung glätten können.
Anfangs
fiel es mir leicht, mich für ihre Monologe zu begeistern, jetzt hatte ich
manchmal das Gefühl, daß sie mich - oder andere Zuhörer - kraft ihrer Rätsel
eher in Schach halten und nebenbei Bewunderungszoll kassieren wollte. Ob ihr
ihre Bedürftigkeit bewußt war, wußte ich nicht. Auf ihre Wortflüsse zu
reagieren hatte jedenfalls gar keinen Sinn. Sie erwartete es nicht und fühlte
sich eher gestört, wenn jemand versuchte mitzureden. Und ich stellte mit
Erschrecken fest, daß sich zwischen uns etwas mischte, was ich auch von zu
Hause gut kannte. Zu Hause nannte ich es die ENTFERNUNGSABHANGIGE
MUTTERALLERGIE. Wenn ich meine Mutter einige Tage nicht gesehen hatte, freute
ich mich, sie zu Hause wieder anzutreffen. Ich freute mich immer noch, wenn ich
sie in einer gewissen Entfernung vor mir sah - wenn sie dann aber direkt vor
mir stand, mich mit ihren Augen verschlang und manchmal vor Freude kindisch mit
den Armen wedelte, war es mit der Zuneigung auf einen Schlag vorbei.
Zwischen
mir und Dana verkeilte sich langsam eine sanfte Gereiztheit. Sie war an mich de
facto fest gebunden, ich war dagegen die ganze Zeit frei. Ihr lief die Zeit
davon - mir aber nicht. Die Tiere schienen die unharmonischen Schwingungen
zwischen uns zu wittern. Der Storch Alfons wurde irrationalerweise eifersüchtig
und attackierte mich, zwischen den Papageien gab es ungewöhnlich heftige
Streitigkeiten, und die Eichhörnchen wirkten depressiv. Bei einem Beischlaf in
der Küche überraschte mich einmal eine furchtbare Beklemmung in der Brust, und
ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, daß ich irgendwann später herzkrank werden
könnte. Auf jeden Fall schnürte mich so etwas wie ein Schuldgefühl ein, und ich
war mir so gut wie sicher, etwas grundsätzlich Unrechtes zu tun. Kurz danach
wurde ich tatsächlich bestraft - und ziemlich hart. Dana hatte einen
Blechkuchen aus ENTkernten Kirschen gebacken, ein einziger Kern war aber doch
dringeblieben. Als ich mit voller Wucht auf ihn biß und mir die Hälfte eines
Backenzahns abbrach, war ich darüber nur kurz entsetzt. Wütend war ich
überraschenderweise gar nicht. Ich war sogar zufrieden - als ob ich eine Art
Strafe abgebüßt hätte. Mir war, als ob von mir sowieso erwartet worden wäre,
vivisezierte Organteile abzugeben - für Dana, für meine Mutter oder für eine
andere Frau, die ich wegen der aktuellen Verstrickung irgendwo warten ließ.
An Dana
störten mich plötzlich Dinge, die ich früher eher reizend fand, und was mich
schon immer gestört hatte, störte mich jetzt dreifach. Teilweise begann ich mich
voreinigen
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