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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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Leicht auszumachen war diese Angst vor allem als Angst vor der
Polizei. Und man bekam sie, ohne mit der Polizei unbedingt Ärger gehabt zu
haben. Als ich später an die Zerstörungsorgien beim Freilichtkonzert im
Fucik-Park dachte, wurde mir klar, daß diese Angst damals noch nicht in mir
eingefressen gewesen war. Die gejagten und verfolgten Langhaarigen, die von den
Kleinbürgern spöttisch Mänicky - Mariechen - genannt wurden, kannten diese
Angst dagegen schon seit langem. Und natürlich auch alle »Parasiten« unserer
Gesellschaft - also diejenigen, die formell gerade keine reguläre Beschäftigung
vorweisen konnten. Aber unwesentlich später - im Grunde hing es mit dem Einmarsch
der Russen zusammen - zuckte es in mir auch schon präventiv vorsichtshalber
beim Anblick eines jeden auf der Straße auftauchenden Polizisten. Dieser Staat
durfte schon immer ungeniert zuschlagen und alle Züchtigungsmaßnahmen in den
Medien als gerechte Wohltaten feiern - nach dem Russeneinmarsch setzte man
diese Tradition wieder schamlos fort. Und ich wurde unweigerlich einer von
denen, die sich schon seit der Machtusurpation von 1948 pausenlos bedroht
gefühlt haben mußten. Ich war inzwischen von den gleichen buntgemischten
Schrecken umstellt. Dummerweise hatte ich zusätzlich das Gefühl, daß mir mein
ideell-politisches Delinquententum anzusehen war. Das unwillkürliche Zucken
beim Anblick jeder polizeigrünen Uniform wurde daher zur Regel. Auch die harmlosen
Uniformträger aus der Militärakademie, diesich in meiner Gegend weiterhin
herumtrieben, mutierten für mich zu politischen Gegnern. In meiner Kindheit
empfand ich noch alle Uniformierten als freundlich und hilfsbereit - und es
wurde grundsätzlich nicht gezuckt. Die Farbe der Polizeiuniformen war früher
sowieso blau.
    In den
Jahren nach der Invasion steigerten sich in mir aus Wut gegen den überall
sichtbaren Zerfall, aus Verzweiflung über den Untergang von Kultur und Anstand
aggressive Tötungsimpulse. Die überschießende Wut kam manchmal so plötzlich in
mir auf, daß ich sie schwer unterdrücken konnte. Einmal ging ich mit einem
kaputten Regenschirm über die Straße und merkte, wie mich zwei junge Dummköpfe
wegen des eingeknickten Regenschirmrands auslachten. Sie saßen an der Kreuzung
in ihrem häßlichen Lieferwagen, ihre Fenster waren offen - und sie lachten
nicht nur, sie riefen mir auch noch etwas Spöttisches zu und qualmten dabei. In
dieser Zeit hörte ich mehrmals am Tag Strawinskys »Le sacre« und war voller
wildester Energie. Außerdem trug ich dank der gewaltigen Kraft der Musik ein
Übermaß an Würde in mir, die ich mir auf keinen Fall beschmutzen lassen wollte.
Die beiden Raucher im Auto hatten vielleicht nur gute Laune, ich war trotzdem
außer mir. Schon mein erstes großes Musikerlebnis in der Kindheit hatte mit
bevorstehender Rache zu tun. Die fünfzehn Paukenschläge nach Tybalts Tod - in
Prokofjeffs Romeo und Julia - hörte ich mir manchmal endlos lange an. Ich nahm
den Tonarm immer wieder hoch, setzte die Nadel in die richtige Lücke hinter den
»Tanz«, und »Tybalts Tod« begann von neuem - und ich wartete fiebrig auf die
fünfzehn quälend langsamen Fortissimo-Schläge, freute mich auf das
anschließende herrliche Katastrophengejaule und -trompete, spürte, wie sich
diese Feier des Todes, die beste aller tragischen Stimmungen, die sich ein
Mensch im Vorfeld eines Rachefeldzugs wünschen kann, mit jedem Takt in mich
tiefer hineinfraß.
    Ich nahm -
die beiden im Auto sitzenden Lachidioten imVisier und meinen kaputten Regenschirm
in der linken Hand - den erstbesten Pflasterstein und warf ihn mit voller Wucht
aufs Ziel. Dummerweise warf ich viel zu genau, und der Stein flog tatsächlich
durchs offene Fenster in die Kabine, flog in Richtung des Beifahrerkopfes. In
dem Moment rannte ich aber schon los und konnte nichts mehr sehen. Ich hörte
auch keinen Schrei, kein Hupen, keine quietschenden Reifen. Da die Presse in
der äußerst kompakten »Schwarzen Chronik« nur eine eingeschränkte Anzahl von
Polizeiberichten bringen durfte (fünf, sechs, sieben ... mehr als zehn auf
keinen Fall), erfuhr ich nie, was ich damals angerichtet hatte.
    Während
der Tage des Wartens auf den eventuellen Zugriff der Polizei packte mich ein
vernichtend schlechtes Gewissen wegen meiner verstorbenen Kellertante Peprl.
Ich hatte mich von ihr seinerzeit nicht ordentlich verabschiedet, und mir wurde
plötzlich klar, daß es für manche Dinge von einem Moment auf den anderen

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