Faktotum
Achten.«
Willie Harmatz lag als Jockey über dem Durchschnitt, aber er hatte Probleme mit seinem Gewicht, so wie heute Howard Grant. Bei Durchsicht der Tabellen fiel uns auf, daß Harmatz gewöhnlich im letzten Rennen einen Sieg herauslief, und in der Regel mit guten Quoten.
Wir fuhren nicht jeden Tag da raus. An manchen Tagen waren wir morgens einfach zu verkatert, um aus den Federn zu kommen. Da standen wir dann gegen Nachmittag auf, tätigten einen Einkauf im Spirituosenladen, setzten uns für ein oder zwei Stunden in eine Kneipe, hörten der Musikbox zu, sahen uns die Besoffenen an, rauchten, ließen uns das tote Gelächter um die Ohren schallen – es war ein angenehmes Leben.
Wir hatten eine Glückssträhne. Wie es schien, kamen wir immer an den richtigen Tagen auf die Rennbahn.
»Also schau her«, sagte ich dann immer zu Jan, »nochmal bringt ers nicht … völlig unmöglich.«
Doch jedesmal kam Willie Harmatz unweigerlich aus der Kurve und drehte in der Zielgeraden voll auf und brachte vor unseren trübseligen und whiskyvernebelten Augen im letzten Augenblick noch die Nase nach vorn – da ging er durchs Ziel, der gute alte Willie, bei 16 für eins, bei 8 für eins, bei 9 für zwei. Willie riß uns immer wieder raus, lange nachdem der Rest der Welt das Interesse verloren und den Schirm zugemacht hatte.
Das 35-Dollar-Auto sprang fast immer an. Das war nicht das Problem. Das Problem war, die Scheinwerfer anzukriegen. Nach dem 8. Rennen war es immer schon sehr dunkel. Wenn wir zuhause losfuhren, bestand Jan gewöhnlich darauf, in ihrer Handtasche eine Flasche Portwein mitzunehmen; auf der Rennbahn tranken wir dann Bier, und wenn alles lief, gings zum Trinken in die Rennplatzkneipe – meistens Scotch and Water.
Ich war schon einmal wegen Trunkenheit am Steuer verknackt worden, und da fuhr ich nun abends in einem Auto ohne Licht herum und wußte kaum, wo ich war.
»Mach dir keine Sorgen, Baby«, sagte ich dann immer. »Sobald wir durchs nächste Schlagloch fahren, gehen die Lichter an.« Daß an der Karre die Federn kaputt waren, kam uns dabei zusätzlich zugute.
»Da kommt eins! Halt deinen Hut fest!«
»Ich hab doch gar keinen auf!«
Ich trat das Gaspedal bis auf den Boden durch.
POW! POW! POW!
Jan flog hoch bis ans Wagendach und versuchte krampfhaft ihre Portweinflasche festzuhalten. Ich klammerte mich ans Lenkrad und hielt Ausschau nach ein bißchen Licht da vorne auf der Straße. Nach einigen Schlaglöchern gingen die Scheinwerfer immer an. Manchmal gleich, manchmal erst nach einer Weile, aber an gingen sie immer.
42
Wir wohnten in der 4. Etage eines alten Apartmenthauses; wir hatten zwei Zimmer nach hinten raus. Das Apartmenthaus stand auf einer hohen Klippe, und wenn man hinten aus dem Fenster sah, kam es einem vor, als sei man zwölf Stockwerke über der Erde und nicht nur vier. Es gab einem so ziemlich das Gefühl, am Rand der Welt zu leben – eine letzte Station vor dem großen Sturz in die Tiefe.
Inzwischen war unsere Glückssträhne beim Pferderennen zu Ende gegangen, so wie alle Glückssträhnen einmal zu Ende gehen. Es war sehr wenig Geld da, und wir tranken Wein. Port und Muskatel. Der Fußboden in der Küche stand voll mit Reihen von 4-Liter-Flaschen, sechs oder sieben Stück, und davor standen vier oder fünf Literflaschen, und vor denen standen nochmal drei oder vier kleinere.
»Eines Tages«, sagte ich zu Jan, »wenn sie nachweisen, daß die Welt vier Dimensionen hat und nicht nur drei, wird es einem Mann möglich sein, mal kurz rauszugehen und sich einfach in Nichts aufzulösen. Keine Beerdigung, keine Tränen, keine Illusionen, kein Himmel und keine Hölle. Die Leute werden rumsitzen, und sie werden sagen: ›Wo ist eigentlich George abgeblieben?‹ Und jemand wird sagen: ›Hm, ich weiß nicht. Er wollte nur mal kurz raus und sich ne Packung Zigaretten holen.‹«
»Sag mal«, sagte Jan, »wie spät ham wir eigentlich? Ich würde gern mal wissen, wieviel Uhr es ist.«
»Na, mal sehn, wir haben die Uhr heute mittag um 12 nach dem Radio gestellt. Wir wissen, daß sie in der Stunde 35 Minuten vorgeht. Sie zeigt jetzt 19.30 Uhr, aber wir wissen, daß das nicht stimmen kann, weil es dazu noch nicht dunkel genug ist. Okay. Also siebeneinhalb Stunden. 7 mal 35 Minuten macht 245 Minuten. Die Hälfte von 35 ist siebzehneinhalb. Damit hätten wir 252 Minuten und dreißig Sekunden. Okay, das heißt, wir stehen nur mit 4 Stunden, 42 Minuten und 30 Sekunden in der Kreide, also stellen wir die
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