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Falken: Roman (German Edition)

Falken: Roman (German Edition)

Titel: Falken: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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Arena für die Turnierkämpfe sanden. Christophe sagt: »Wird der König heute kämpfen? Wird er gegen Lord Norris antreten und ihn umbringen?«
    Nein, denkt er, das wird er mir überlassen. Hinter den Werkstätten, den Lagerräumen und Stegen, den natürlichen Aufenthaltsorten von Männern wie ihm selbst, werden die Pagen in den Türmen mit Blick auf den Turnierplatz Seidenkissen für die Ladies auslegen. Damast und feines Leinen treten an die Stelle von Drillich, Seilen und Teer. Öl, Gestank, Krach und der Geruch des Flusses weichen dem Duft von Rosenwasser und dem leisen Murmeln der Zofen, die die Königin für den vor ihr liegenden Tag ankleiden. Sie fegen die Überbleibsel ihres Frühstücks beiseite, Weißbrotkrümel und Stücke Dörrobst, bringen ihr Unterröcke, Kleider und Ärmel, und Anne trifft ihre Wahl. Sie wird eingekleidet, geschnürt und gebunden, geschminkt, geschmückt und mit Edelsteinen gespickt.
    Es muss jetzt drei oder vier Jahre her sein, dass der König ein Buch mit dem Titel »Ein Spiegel der Wahrheit« herausbrachte, um seine erste Scheidung zu rechtfertigen. Teile davon, heißt es, hat er selbst geschrieben.
    Anne Boleyn ruft nach ihrem Spiegel. Sie sieht sich selbst: die gelbliche Haut, den mageren Hals, Schlüsselbeine wie Klingen.
    Erster Mai 1536: Das ist heute sicher der letzte Tag des Adelslebens. Was hinfort geschieht – und solche Spiele werden weitergehen –, wird nicht mehr sein als eine Totenparade mit Bannern, ein Wettbewerb der Leichen. Der König wird das Feld verlassen. Der Tag wird enden, abgebrochen wie ein sprödes Schienbein, ausgespuckt wie ein Mundvoll eingeschlagener Zähne. George Boleyn, Bruder der Königin, wird in den seidenen Pavillon treten, um seine Waffen abzulegen, Vergünstigungen und Gunstbeweise, die Bänder, welche die Ladies ihm verehrt haben. Er wird den Helm abnehmen und ihn seinem Knappen reichen, die Welt mit vernebelten Augen sehen: prangende Falken, liegende Leoparden, Klauen, Krallen, Zähne. Er wird den Kopf auf seinen Schultern spüren, weich und wackelig wie Götterspeise.
    Whitehall: An diesem Abend geht er, Norris hinter Gittern wissend, zum König. Ein schnelles Wort mit Rafe in einem Vorraum: Wie ist er gelaunt?
    »Nun«, sagt Rafe, »man würde erwarten, dass er wütet wie Edgar der Friedfertige und nach jemandem Ausschau hält, dem er einen Speer in den Leib rammen kann.« Sie tauschen ein Lächeln aus und denken an den Essenstisch in Wolf Hall. »Aber er ist ruhig. Überraschend ruhig. Als hätte er das alles schon seit Langem gewusst. Tief im Herzen. Und er ist auf ausdrücklichen Wunsch allein.«
    Allein: Aber mit wem sollte er auch zusammen sein? Es ist unsinnig zu erwarten, dass ihm der sanftmütige Norris flüsternd berichtet, Norris, der den privaten Geldbeutel des Königs unter sich hatte: Rollt jetzt das Geld des Königs lose über die Straßen? Die Engelsharfen sind zerschlagen, überall herrscht Zwietracht: Geldbeutel sind zerschnitten, Seidenbänder zerrissen, Fleisch quillt hervor.
    Er steht auf der Schwelle, und Henry wendet ihm den Blick zu. »Crumb«, sagt er schwer. »Kommen Sie und setzen Sie sich.« Er winkt den Kammerjunker weg, der bei der Tür steht, und schenkt sich einen Becher Wein ein. »Ihr Neffe wird Ihnen berichtet haben, was auf dem Turnierplatz geschehen ist.« Er sagt sanft: »Ist ein guter Junge, Ihr Richard, oder?« Sein Blick ist entrückt, als würde er das Thema gern hinter sich lassen. »Ich war heute unter den Zuschauern und habe selbst nicht mitgemacht. Sie war natürlich wie immer: entspannt unter ihren Frauen, mit äußerst überheblicher Miene, aber hin und wieder lächelte sie und unterbrach sich, um mit diesem oder jenem Gentleman ein Wort zu wechseln.« Er lacht, es klingt flach und unglaubwürdig. »O ja, sie hat sich unterhalten.«
    Dann begannen die Wettkämpfe. Die Herolde riefen die einzelnen Reiter auf. Henry Norris hatte Pech. Sein Pferd wurde von etwas erschreckt, scheute und legte die Ohren an. Es bockte und versuchte seinen Reiter abzuwerfen. (Das Pferd kann versagen, der Mann kann versagen, die Nerven können versagen.) Der König schickte eine Nachricht an Norris und riet ihm, das Pferd zurückzuziehen. Er werde ihm einen Ersatz schicken, eines von seinen persönlichen Turnierpferden, das fertig aufgezäumt sei für den Fall, dass ihn selbst doch noch plötzlich die Lust überkommen hätte, in das Geschehen einzugreifen.
    »Es war die übliche Höflichkeit«, erklärt Henry und

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